Das Internet versteht Aphorismen nicht
Was die kleine Form so interessant macht.
Autor Jürgen Wilbert erklärt,
Der Aphorismus und die sozialen Netzwerke werden wohl keine guten Freunde mehr. Motivierende Sprüche auf kitschigen Postkartenmotiven und Wandtattoos á la „Lebe deinen Traum und träume nicht dein Leben“werden angezeigt, wenn man Aphorismen bei Pinterest sucht. Auch Twitter hat sich der kurzen Lebensweisheiten angenommen, ist ja auch irgendwie logisch, wenn 280 Zeilen für einen geistreich formulierten Tweet ausreichen müssen. Aber auch da ist nicht alles Aphorismus, was danach aussieht, meistens sind es dann doch nur pseudophilosophische Sinnsprüche.
Zugegeben: Der Aphorismus ist ein wenig in Vergessenheit geraten. Seine Blütezeit hatte er im 19. und zu Beginn des 20. Jahrhunderts, als er von Schriftstellern wie Marie von Ebner-Eschenbach, Franz Kafka und Hugo von Hofmannsthal gesellschaftsfähig gemacht wurde. Der Aphorismus fristet heute ein Nischendasein, tot ist er aber trotzdem nicht: Die Uni- und Landesbibliothek hat ihm jüngst ein eigenes Archiv eingerichtet, mit über 3500 Einheiten. Vom 18. bis ins 21. Jahrhundert reicht die Sondersammlung, die Besuchern zu Lehr- und
Forschungszwecken zur Verfügung stehen soll, darunter auch Bände von Georg Christoph Lichtenberg, dem deutschen Meister der Aphorismen.
Auch der Düsseldorfer Schriftsteller Jürgen Wilbert, der sich schon als Unterprimaner im Gymnasium mit der kleinsten literarischen Prosa-Gattung beschäftigt hat, glaubt, dass sie von den sozialen Medien, insbesondere von Twitter, missverstanden
Jürgen Wilbert Schriftsteller
wird. „Eine Überschneidung von Aphorismen und Tweets besteht in manchen Fällen. Da jeder halbgare Gedanke rausgehauen wird, haben aber ganz wenige davon die literarische und gedankliche Qualität eines Aphorismus“, sagt er. Eine passende Lebensweisheit hat er auch dazu: „Vor lauter Medienpräsenz geht die Geistesgegenwart verloren“.
Viele würden vergessen, was der Aphorismus eigentlich ist, „nämlich das, was die Philosophie und die Sprachkunst gezeugt haben“. Die
Philosophie fragt und die Sprachkunst antwortet – daraus ergeben sich Sätze wie „Sein Gewissen war rein. Er benutzte es nie“von Stanislaw Jezy Lec. Ein Aphorismus sollte nicht nur kurz, prägnant und lakonisch sein, sondern auch eine geistreiche Lebensweisheit vermitteln. Das passiert nur, wenn der Verfasser einen Schritt weiter denkt und nicht nur an der Oberfläche kratzt: „Ein Aphorismus ist das letzte Glied einer langen Gedankenkette“, definierte Marie von Ebner-Eschenbach die Gattung.
Am wichtigsten ist, dass der Aphorismus nachhallt. Er soll Leser aufrütteln, verwirren und zum Nachdenken anregen. Das funktioniert durch Witz, Widersprüchlichkeit und Metaphern, auch durch Frechheit und Eigensinnigkeit. „Wer sich widerspricht, hat mehr Logik im Kopf“, stellte Hans Kasper fest. Der Aphorismus hat die Aufgabe, die Zusammenhänge der Gesellschaft zu beleuchten. Dass das nicht mal eben in fünf Minuten passiert, ist klar. Obwohl auf Twitter und anderen sozialen Netzwerken Aphorismen meist falsch verstanden werden, hat eine neue Entwicklung dem Aphorismus sehr gut getan: der Poetry Slam. „Viele Slammer beobachten scharfsinnig die Gesellschaft und sind dabei sehr originell“, sagt Wilbert.
„Vor lauter Medienpräsenz geht die Geistesgegenwart verloren“