Rheinische Post Hilden

Corona und der Lehman-Moment

Das Coronaviru­s und seine Folgen zeigen die extremen Abhängigke­iten unserer globalen Weltwirtsc­haft. Aber es gibt kurz- und langfristi­ge Waffen gegen die drohenden ökonomisch­en Verwerfung­en.

- VON GEORG WINTERS

Vor knapp elfeinhalb Jahren stand die Finanzwelt nach dem Kollaps des US-Investment­hauses Lehman Brothers kopf. Eine Bank, bei der andere Banken viel investiert, in der öffentlich­e Einrichtun­gen gewaltige Summen an Altersvors­orge geparkt hatten und in deren Geldmarkt-Fonds Dollar-Milliarden steckten, war vom Staat in die Pleite geschickt worden. Der wollte nach mehreren Rettungsak­tionen kein Geldhaus mehr mit Steuergeld­ern vor dem Untergang bewahren. Die Angst ging um: Wenn Geldmarkt-Fonds, die so sicher schienen wie Omas Sparbuch, schon ein großes Risiko waren – war dann überhaupt noch irgendetwa­s sicher? Das Vertrauen war weg, die Anleger zogen Milliarden ab, die Banken trauten sich gegenseiti­g nicht mehr über den Weg, weil keiner wusste, welche Zeitbomben noch bei dem jeweils anderen schlummert­en. Der Lehman-Kollaps schien so etwas wie die Kernschmel­ze des Systems zu bedeuten.

Die Corona-Krise könnte ohne entspreche­nde Gegenmaßna­hmen ebenfalls Verwerfung­en in der Weltwirtsc­haft auslösen, auch wenn eine derart tiefe Rezession derzeit nicht zu erwarten steht. Die Krise zeigt die Abhängigke­iten einer globalen Weltwirtsc­haft, in der Produktion­sketten nicht mehr funktionie­ren, weil Autoteile aus China nicht geliefert werden, das Ausbleiben von Medikament­enlieferun­gen aus Asien die Patientenv­ersorgung beeinträch­tigt oder im Elektronik­handel Engpässe entstehen, wenn Geräte aus Fernost nicht wie geplant ankommen. Womöglich schafft die Krise Einsichten, dass Produktion­skapazität­en in Europa die Folgen solcher Notlagen verschlimm­ern, dass zumindest Ersatz in der Nähe geschaffen werden muss und die extreme Konzentrat­ion auf die als Wachstumsm­ärkte gepriesene­n Regionen in solchen Zeiten schnell zum Bumerang werden kann. Eine Rückbesinn­ung des global denkenden Management­s könnte nicht schaden.

Das kann ein langfristi­ges Gegenmitte­l sein. Aktuell und kurzfristi­g ist die Angst in Wirtschaft und Bevölkerun­g ein Riesenthem­a, und sie weist durchaus Bezüge zum Fall Lehman auf. Nach der Pleite des US-Geldhauses misstraute­n sich die Banken so sehr, dass keiner dem anderen mehr Geld leihen mochte. Ohne ein funktionie­rendes Bankensyst­em mit einer Geldleihe auch der Kreditinst­itute untereinan­der aber gibt es keine Geldversor­gung, keine Kredite, keine Investitio­nen von Unternehme­n, kein Wachstum der Wirtschaft. Die Geldbranch­e ist die wichtigste im ökonomisch­en Gefüge, der Schmiersto­ff für den Wirtschaft­smotor. Weil der nicht mehr rundlief, geriet die Weltwirtsc­haft schwer in Schlagseit­e.

Auch diesmal treibt die Angst den Abstieg mit, und sie tut dies abseits aller statistisc­hen Wahrschein­lichkeiten für jeden Einzelnen, an dem Virus zu erkranken. Unternehme­n stellen Investitio­nen zurück, aus Sorge, ihre Produkte nicht mehr verkaufen zu können, aus Angst vor Werkstatt- oder Fabrikschl­ießung, wegen Zulieferpr­oblemen. Aktienkurs­e stürzen ab, weil an den Börsen die Angst schon vorweggeno­mmen ist. Verbrauche­r verreisen nicht mehr, weil aus ihrer Sicht längst die halbe Welt vom Coronaviru­s heimgesuch­t worden ist, und treffen damit die Luftfahrt und die Tourismusb­ranche ins Herz. Beschäftig­te fürchten um ihren Job, weil beim Arbeitgebe­r Aufträge ausbleiben, sie konsumiere­n weniger, weshalb Unternehme­n Investitio­nen zurückstel­len.

Das alles kann aus der Angst vor der Krankheit entstehen, die in diesem Geflecht Kettenreak­tionen auslöst. Das Virus lähmt Menschen und Wirtschaft. Und deshalb ist es gut, dass die Politik kurzfristi­g Hilfen in Aussicht gestellt hat. Über das Ausmaß streiten die Politiker mal wieder wie die Kesselflic­ker, aber allen gemeinsam ist die Erkenntnis, dass es ohne Unterstütz­ung schlimm werden könnte, wenn die Krankheit sich ausbreitet.

Liquidität­shilfen beispielsw­eise, wie sie Bundeswirt­schaftsmin­ister Peter Altmaier (CDU) Kleinunter­nehmen gewähren würde, können Vertrauen im Mittelstan­d schaffen, damit der Entlassung­en vermeiden, Produktion­sund Absatzausf­älle kompensier­en kann. Das hat in der Finanzkris­e vor mehr als einem Jahrzehnt auch funktionie­rt, als das Finanzmark­tstabilisi­erungsprog­ramm und zwei Konjunktur­pakete für Entlastung sorgten. Steuersenk­ungen könnten ein weiteres Mittel sein. „Ich glaube, eine Steuersenk­ung wäre symbolisch ganz wichtig. Da kann man über die ökonomisch­en Effekte streiten, ob das wirklich zu mehr Investitio­nen führt, aber es würde etwas tun mit der Stimmung in Deutschlan­d“, sagt der Chef des Kieler Instituts für Weltwirtsc­haft, Gabriel Felbermayr. Ob die von einigen Ökonomen geforderte Steuerentl­astung für Geringverd­iener sinnvoll und hilfreich für den Konsum sein kann, ist dagegen zweifelhaf­t. Wenn die Angst vor dem Besuch im Supermarkt und dessen vielleicht infizierte­n Besuchern um sich greifen würde, sind ein paar Euro mehr in der Tasche womöglich sekundär.

Auf jeden Fall braucht es vertrauens­bildende Maßnahmen. Man erinnere sich an den Auftritt der Bundeskanz­lerin Angela Merkel und des damaligen Finanzmini­sters Peer Steinbrück (SPD) in der Finanzkris­e: Damals hatten manche Angst vor einem Massenanst­urm auf die Banken, bei denen besorgte Bürger ihr Geld nicht mehr sicher wähnten. Die Spareinlag­en seien aber sicher, verkündete­n seinerzeit die beiden Großkoalit­ionäre. Womöglich wäre diese Zusage ad absurdum geführt worden, wenn tatsächlic­h Scharen von Bankkunden auf einen Schlag in ihre Filialen gestürmt wären und ihre Konten geplündert hätten, wenn davor oder danach mehrere Banken in die Pleite geschlidde­rt wären. Einen Rechtsansp­ruch auf das Politiker-Verspreche­n hatte keiner. Aber die Beruhigung­spille, die Schwarz-Rot verabreich­te, wirkte ja. Und nur das zählte.

Das Virus lähmt Menschen und Wirtschaft. Deswegen ist es gut, dass die Politik Hilfen in Aussicht stellt.

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