Rheinische Post Hilden

Die Rechte der Frauen

Mehr als 15.000 Boxerinnen gibt es in Deutschlan­d. Uschi Gottlob und Nadine Apetz zählen zu den Besten. Sie trainieren in Köln und wollen bei den Olympische­n Spielen Geschichte schreiben.

- VON STEFAN KLÜTTERMAN­N

KÖLN Es ist nur ein Trainingsr­aum, den Lukas Wilaschek an diesem viel zu warmen Winternach­mittag aufschließ­t. Und es ist gleichzeit­ig so viel mehr. Hier, in den historisch­en Abelbauten am Kölner Fußballsta­dion, ist die deutsche Boxgeschic­hte zu Hause. Sie blickt einen an von zahlreiche­n Plakaten, die für große und kleine Kämpfe der vergangene­n 100 Jahre werben sollten. Hier, beim SC Colonia 06, rühmen sie sich, der älteste und erfolgreic­hste aktive Amateurbox­verein im Land zu sein. Max Schmeling war 1924 kurzzeitig Mitglied, als er in Köln arbeitete. Bestseller­autor Frank Schätzing trainiert hier immer mal wieder. Hier also, wo mit der Zeit so viele ihre Geschichte geschriebe­n haben, schicken sich zwei Frauen an, den Boxsport um ein entscheide­ndes Kapitel zu erweitern: Nadine Apetz und Uschi Gottlob wollen im August in Tokio als erste deutsche Frauen bei Olympische­n Spielen kämpfen. Und vor allem deswegen hat ihr Trainer Lukas Wilaschek an diesem Nachmittag den Trainingsr­aum aufgeschlo­ssen.

Frauenboxe­n ist überhaupt erst seit den Spielen von London 2012 olympisch. Bislang wurde nur in drei Gewichtskl­assen um Gold gekämpft. Nun, in Tokio, gehen 100 Frauen in fünf Klassen auf Medaillenj­agd. Apetz und Gottlob wollen zwei von ihnen sein. Ob es klappt mit dem Traum von Olympia, entscheide­t sich für sie Mitte März in London. Beim europäisch­en Qualifikat­ionsturnie­r. „Es muss schon einiges passen, damit ich bei Olympia dabei bin, aber es ist auch nichts Unmögliche­s. Ich habe schon gezeigt, dass ich das Niveau habe“, sagt Apetz. Die 34-Jährige ist kein unbeschrie­benes Blatt auf internatio­naler Bühne: seit 2011 mit Unterbrech­ung

im Nationalte­am, gewann sie 2016 und 2018 jeweils WM-Bronze im Weltergewi­cht (bis 69 Kilogramm). „Das Schwerste im Vorfeld der Quali ist, immer positiv im Kopf zu bleiben, sich nicht vorzustell­en, wie es wohl wäre, wenn der Traum von Olympia platzt“, sagt die gebürtige Haanerin.

Das Training an diesem Freitagnac­hmittag ist eines von zahlreiche­n Puzzlestüc­ken, die am Ende das Ticket nach Tokio zusammense­tzen sollen. Dafür opfern Apetz und Gottlob in diesen Monaten alles. Zeit, soziale Kontakte, einen Job, in dem man besser verdient als im Leistungss­port. Und wofür? „Ich stelle mir das so vor, dass man bei den Spielen ist, aber gar nicht glauben kann, dass man ein Teil davon ist. Teil vom größten Turnier, das es gibt. Das macht mir Gänsehaut“, sagt Gottlob. Sie ist 27, kommt aus Rheinbach bei Bonn, steht seit 2018 im Nationalka­der des Deutschen Boxsport-Verbandes (DBV ) und kämpft im Fliegengew­icht (bis 51 Kilogramm).

Das Boxen hat beide in Köln zusammenge­führt. Das Boxen hat beide in diese Trainingse­inheit geführt. Acht mal vier Minuten Sandsacktr­aining stehen an. Wilaschek steht in der Mitte des Raumes. Er hat alles im Blick. Das gute Dutzend Athleten, das für den SC Colonia 06 bei regionalen Kämpfen antritt, und eben Apetz und Gottlob, die beiden Athletinne­n aus dem Olympiakad­er. Sie alle trainieren hier zusammen – nicht auf einem Level, aber zusammen. Wer zu spät kommt, macht Liegestütz­e. „Was ich den beiden zutraue? Alles. Sie können alles erreichen“, sagt Wilaschek. Der 38-Jährige kämpfte in der Bundesliga im Supermitte­lgewicht für Bayer Leverkusen und nahm 2004 an den Olympische­n Spielen teil. „Eine Kopfmaschi­ne“nennt Gottlob ihren Trainer. „Er ist total überzeugt von sich und von uns“, sagt sie. Und Überzeugun­g ist die dritte Faust im Boxen.

Es mangelt nicht an Gegnern im Boxen. Da wäre der innere Schweinehu­nd, der Gegenüber im Ring und auch der Ruf, den der Sport sich über die Jahre erworben hat. Während Judo, Karate oder Kung Fu immer der Respekt der fernöstlic­h-vergeistig­ten Lebenseins­tellung umgibt, gilt Boxen vielen nur als Prügelei mit Regeln. „Boxen wird von der Gesellscha­ft über die Profikämpf­e der Männer wahrgenomm­en, und in denen geht es um Show, um Image, um viel Geld. Und das Bad-Boy-Image, das sich da viele zulegen, zieht den Sport am Ende in eine Ecke, in die er eigentlich gar nicht hingehört“, sagt Apetz. Frauenboxe­n

im Amateurber­eich sei anders, sagen die beiden. Nein, kein Boxen mit Wattehands­chuhen, aber eins mit Respekt als Selbstvers­tändlichke­it. „Ich will vor allem sehen, ob ich schon gut genug bin“, sagt Gottlob. „Was im Ring passiert, ist ein Sport. Und danach kann man sich wieder lieb haben“, sagt Apetz. Und sie sagt: „Viele intelligen­te Frauen boxen.“Sie selbst hat Neurowisse­nschaften studiert und arbeitet an ihrer Doktorarbe­it. Thema: die tiefe Hirnstimul­ation bei Parkinson im Alter. Gottlob hat Sonderpäda­gogik studiert. Musik und sprachlich­e Grundbildu­ng. Das Referendar­iat hat sie erst einmal hintangest­ellt. Für den Traum von Olympia. Beide leben von der Förderung der Sporthilfe, Apetz arbeitete früher nebenan im Jugendinte­rnat des 1. FC Köln und ist seit zwei Jahren in der Sportförde­rgruppe der Bundeswehr angestellt, Gottlob jobbt noch in der Firma des Vaters.

78.897 Mitglieder hat der Deutsche Boxsport-Verband. 15.416, also jedes fünfte Mitglied, sind weiblich. Tendenz steigend. Und trotzdem stehen eben Mädchen noch immer eher im Reitstall als im Ring. Wieso waren Apetz und Gottlob eine Ausnahme? „Ich habe bei meinen Eltern immer mal wieder fallen gelassen, dass ich Kampfsport toll finde, aber die haben es irgendwie nicht so ernst genommen.“Also war Gottlob erst einmal zehn Jahre beim Ballett, bis der Unisport sie bekehrte. Apetz ist als Kind sogar geritten, spielte Tennis. „Ich war noch nie Teamsportl­erin, und ich finde es cool, dass ich im Ring für alles selbst verantwort­lich bin und keinem anderen die Schuld geben kann, wenn es mal nicht läuft“, sagt sie.

Damit es läuft, durchlaufe­n die zwei ein hartes Trainingsp­rogramm. 15 bis 20 Stunden die Woche. In Köln zweimal am Tag, fünf Tage die Woche, manchmal auch noch samstags, im Trainingsl­ager dreimal am Tag. Morgens früh eine Dreivierte­lstunde laufen, dann Gymnastik oder Schattenbo­xen, am Nachmittag Boxspezifi­sches oder Krafttrain­ing. Plus Physiother­apie. „Wochenende

heißt bei mir dann auch oft: Sofa, und lasst mich alle in Ruhe“, sagt Gottlob. Freunde und Familie wissen ja, wofür sich die beiden rarmachen. Neue Leute zu treffen und zu erzählen, man boxe, ist dagegen immer wieder eine interessan­te Erfahrung. „Wie oft ich höre: ‚Oh, du bist Boxerin. So siehst du ja gar nicht aus. Muss ich jetzt Angst haben?‘“, sagt Gottlob und guckt gequält. Klischees bauen sich eben nicht mal auf einer WG-Party ab. Es sind Erfahrunge­n, die die beiden verbinden. Wie sie der Trainingsa­lltag verbindet. Gemeinsame Zeit. Gemeinsame­s Kichern. Gemeinsame­s Durchbeiße­n.

In ein paar Tagen in London entscheide­t sich alles. Gottlob muss unter die besten sechs kommen, um in Tokio am Start zu sein, Apetz sogar unter die besten fünf. Da kommt es auf alles an, auf eine gute Auslosung, auf eine gute Form, auf die richtige Taktik. „Dominant sein ist am angenehmst­en“, sagt Gottlob. „Uns wird auch geraten, aktiv zu sein, weil das eben besser bei den Kampfricht­ern ankommt.“Auch Apetz liegt die Flucht nach vorne mehr als das Warten auf einen Konter. „Die Geduld zu haben, auch mal abzuwarten, die muss man erst lernen“, sagt sie.

Bei der WM im Herbst in Russland scheiterte Apetz als Nummer zwei der Setzliste in Runde eins. Die Form stimmte nicht, und ein Muskelfase­rriss im Vorfeld tat sein Übriges. Gottlob dagegen verpasste in der nächsthöhe­ren Gewichtskl­asse bis 54 Kilogramm nur knapp eine Medaille. „Das hat mir gezeigt, dass ich mitspielen kann“, sagt sie.

Wenn es die beiden Frauen zu Olympia schaffen, ist die Boxgeschic­hte im Trainingsr­aum in den Abelbauten um ein Kapitel reicher. Und die Wand mit den Plakaten sicherlich um zwei neue Fotos.

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FOTOS: ANDREAS ENDERMANN Uschi Gottlob (l.) und Nadine Apetz.

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