Die Rechte der Frauen
Mehr als 15.000 Boxerinnen gibt es in Deutschland. Uschi Gottlob und Nadine Apetz zählen zu den Besten. Sie trainieren in Köln und wollen bei den Olympischen Spielen Geschichte schreiben.
KÖLN Es ist nur ein Trainingsraum, den Lukas Wilaschek an diesem viel zu warmen Winternachmittag aufschließt. Und es ist gleichzeitig so viel mehr. Hier, in den historischen Abelbauten am Kölner Fußballstadion, ist die deutsche Boxgeschichte zu Hause. Sie blickt einen an von zahlreichen Plakaten, die für große und kleine Kämpfe der vergangenen 100 Jahre werben sollten. Hier, beim SC Colonia 06, rühmen sie sich, der älteste und erfolgreichste aktive Amateurboxverein im Land zu sein. Max Schmeling war 1924 kurzzeitig Mitglied, als er in Köln arbeitete. Bestsellerautor Frank Schätzing trainiert hier immer mal wieder. Hier also, wo mit der Zeit so viele ihre Geschichte geschrieben haben, schicken sich zwei Frauen an, den Boxsport um ein entscheidendes Kapitel zu erweitern: Nadine Apetz und Uschi Gottlob wollen im August in Tokio als erste deutsche Frauen bei Olympischen Spielen kämpfen. Und vor allem deswegen hat ihr Trainer Lukas Wilaschek an diesem Nachmittag den Trainingsraum aufgeschlossen.
Frauenboxen ist überhaupt erst seit den Spielen von London 2012 olympisch. Bislang wurde nur in drei Gewichtsklassen um Gold gekämpft. Nun, in Tokio, gehen 100 Frauen in fünf Klassen auf Medaillenjagd. Apetz und Gottlob wollen zwei von ihnen sein. Ob es klappt mit dem Traum von Olympia, entscheidet sich für sie Mitte März in London. Beim europäischen Qualifikationsturnier. „Es muss schon einiges passen, damit ich bei Olympia dabei bin, aber es ist auch nichts Unmögliches. Ich habe schon gezeigt, dass ich das Niveau habe“, sagt Apetz. Die 34-Jährige ist kein unbeschriebenes Blatt auf internationaler Bühne: seit 2011 mit Unterbrechung
im Nationalteam, gewann sie 2016 und 2018 jeweils WM-Bronze im Weltergewicht (bis 69 Kilogramm). „Das Schwerste im Vorfeld der Quali ist, immer positiv im Kopf zu bleiben, sich nicht vorzustellen, wie es wohl wäre, wenn der Traum von Olympia platzt“, sagt die gebürtige Haanerin.
Das Training an diesem Freitagnachmittag ist eines von zahlreichen Puzzlestücken, die am Ende das Ticket nach Tokio zusammensetzen sollen. Dafür opfern Apetz und Gottlob in diesen Monaten alles. Zeit, soziale Kontakte, einen Job, in dem man besser verdient als im Leistungssport. Und wofür? „Ich stelle mir das so vor, dass man bei den Spielen ist, aber gar nicht glauben kann, dass man ein Teil davon ist. Teil vom größten Turnier, das es gibt. Das macht mir Gänsehaut“, sagt Gottlob. Sie ist 27, kommt aus Rheinbach bei Bonn, steht seit 2018 im Nationalkader des Deutschen Boxsport-Verbandes (DBV ) und kämpft im Fliegengewicht (bis 51 Kilogramm).
Das Boxen hat beide in Köln zusammengeführt. Das Boxen hat beide in diese Trainingseinheit geführt. Acht mal vier Minuten Sandsacktraining stehen an. Wilaschek steht in der Mitte des Raumes. Er hat alles im Blick. Das gute Dutzend Athleten, das für den SC Colonia 06 bei regionalen Kämpfen antritt, und eben Apetz und Gottlob, die beiden Athletinnen aus dem Olympiakader. Sie alle trainieren hier zusammen – nicht auf einem Level, aber zusammen. Wer zu spät kommt, macht Liegestütze. „Was ich den beiden zutraue? Alles. Sie können alles erreichen“, sagt Wilaschek. Der 38-Jährige kämpfte in der Bundesliga im Supermittelgewicht für Bayer Leverkusen und nahm 2004 an den Olympischen Spielen teil. „Eine Kopfmaschine“nennt Gottlob ihren Trainer. „Er ist total überzeugt von sich und von uns“, sagt sie. Und Überzeugung ist die dritte Faust im Boxen.
Es mangelt nicht an Gegnern im Boxen. Da wäre der innere Schweinehund, der Gegenüber im Ring und auch der Ruf, den der Sport sich über die Jahre erworben hat. Während Judo, Karate oder Kung Fu immer der Respekt der fernöstlich-vergeistigten Lebenseinstellung umgibt, gilt Boxen vielen nur als Prügelei mit Regeln. „Boxen wird von der Gesellschaft über die Profikämpfe der Männer wahrgenommen, und in denen geht es um Show, um Image, um viel Geld. Und das Bad-Boy-Image, das sich da viele zulegen, zieht den Sport am Ende in eine Ecke, in die er eigentlich gar nicht hingehört“, sagt Apetz. Frauenboxen
im Amateurbereich sei anders, sagen die beiden. Nein, kein Boxen mit Wattehandschuhen, aber eins mit Respekt als Selbstverständlichkeit. „Ich will vor allem sehen, ob ich schon gut genug bin“, sagt Gottlob. „Was im Ring passiert, ist ein Sport. Und danach kann man sich wieder lieb haben“, sagt Apetz. Und sie sagt: „Viele intelligente Frauen boxen.“Sie selbst hat Neurowissenschaften studiert und arbeitet an ihrer Doktorarbeit. Thema: die tiefe Hirnstimulation bei Parkinson im Alter. Gottlob hat Sonderpädagogik studiert. Musik und sprachliche Grundbildung. Das Referendariat hat sie erst einmal hintangestellt. Für den Traum von Olympia. Beide leben von der Förderung der Sporthilfe, Apetz arbeitete früher nebenan im Jugendinternat des 1. FC Köln und ist seit zwei Jahren in der Sportfördergruppe der Bundeswehr angestellt, Gottlob jobbt noch in der Firma des Vaters.
78.897 Mitglieder hat der Deutsche Boxsport-Verband. 15.416, also jedes fünfte Mitglied, sind weiblich. Tendenz steigend. Und trotzdem stehen eben Mädchen noch immer eher im Reitstall als im Ring. Wieso waren Apetz und Gottlob eine Ausnahme? „Ich habe bei meinen Eltern immer mal wieder fallen gelassen, dass ich Kampfsport toll finde, aber die haben es irgendwie nicht so ernst genommen.“Also war Gottlob erst einmal zehn Jahre beim Ballett, bis der Unisport sie bekehrte. Apetz ist als Kind sogar geritten, spielte Tennis. „Ich war noch nie Teamsportlerin, und ich finde es cool, dass ich im Ring für alles selbst verantwortlich bin und keinem anderen die Schuld geben kann, wenn es mal nicht läuft“, sagt sie.
Damit es läuft, durchlaufen die zwei ein hartes Trainingsprogramm. 15 bis 20 Stunden die Woche. In Köln zweimal am Tag, fünf Tage die Woche, manchmal auch noch samstags, im Trainingslager dreimal am Tag. Morgens früh eine Dreiviertelstunde laufen, dann Gymnastik oder Schattenboxen, am Nachmittag Boxspezifisches oder Krafttraining. Plus Physiotherapie. „Wochenende
heißt bei mir dann auch oft: Sofa, und lasst mich alle in Ruhe“, sagt Gottlob. Freunde und Familie wissen ja, wofür sich die beiden rarmachen. Neue Leute zu treffen und zu erzählen, man boxe, ist dagegen immer wieder eine interessante Erfahrung. „Wie oft ich höre: ‚Oh, du bist Boxerin. So siehst du ja gar nicht aus. Muss ich jetzt Angst haben?‘“, sagt Gottlob und guckt gequält. Klischees bauen sich eben nicht mal auf einer WG-Party ab. Es sind Erfahrungen, die die beiden verbinden. Wie sie der Trainingsalltag verbindet. Gemeinsame Zeit. Gemeinsames Kichern. Gemeinsames Durchbeißen.
In ein paar Tagen in London entscheidet sich alles. Gottlob muss unter die besten sechs kommen, um in Tokio am Start zu sein, Apetz sogar unter die besten fünf. Da kommt es auf alles an, auf eine gute Auslosung, auf eine gute Form, auf die richtige Taktik. „Dominant sein ist am angenehmsten“, sagt Gottlob. „Uns wird auch geraten, aktiv zu sein, weil das eben besser bei den Kampfrichtern ankommt.“Auch Apetz liegt die Flucht nach vorne mehr als das Warten auf einen Konter. „Die Geduld zu haben, auch mal abzuwarten, die muss man erst lernen“, sagt sie.
Bei der WM im Herbst in Russland scheiterte Apetz als Nummer zwei der Setzliste in Runde eins. Die Form stimmte nicht, und ein Muskelfaserriss im Vorfeld tat sein Übriges. Gottlob dagegen verpasste in der nächsthöheren Gewichtsklasse bis 54 Kilogramm nur knapp eine Medaille. „Das hat mir gezeigt, dass ich mitspielen kann“, sagt sie.
Wenn es die beiden Frauen zu Olympia schaffen, ist die Boxgeschichte im Trainingsraum in den Abelbauten um ein Kapitel reicher. Und die Wand mit den Plakaten sicherlich um zwei neue Fotos.