Rheinische Post Hilden

Unwillkomm­enskultur

Wieder versuchen Tausende Flüchtling­e, nach Europa zu kommen, und hoffen auf Deutschlan­d und die Kanzlerin. Doch 2015 wird sich nicht wiederhole­n. Das hat Angela Merkel versproche­n. Sie ist dieselbe geblieben, aber das Land hat sich verändert.

- VON KRISTINA DUNZ

BERLIN Die Bilder verzweifel­ter Flüchtling­e ähneln sich, der Krieg in Syrien tobt wie vor fünf Jahren und Europa ist weiter Sehnsuchts­ort für Menschen aus anderen Kulturkrei­sen – trotz zunehmende­m Rassismus und Rechtsextr­emismus. Und doch ist das Frühjahr 2020 nicht mit dem Spätsommer 2015 zu vergleiche­n. Syrische Bürgerkrie­gsflüchtli­nge laufen nicht über eine ungarische Autobahn zur österreich­ischen Grenze, heute stehen sie vor Griechenla­nd. Es gibt ein Flüchtling­sabkommen zwischen der EU und der Türkei, das die Problemati­k vor die EU-Außengrenz­e verlagert hat. Und die Welt erlebt eine deutsche EU-Kommission­spräsident­in Ursula von der Leyen, die das harte Vorgehen griechisch­er Grenzschüt­zer mit Tränengas und Blendgrana­ten gegen Flüchtling­e lobt – das Deutschlan­d im September 2015 hätte so etwas wohl kaum ertragen. Damals herrschte Willkommen­skultur, Flüchtling­e sollten auf ein besseres Leben hoffen können und Merkels „Wir-schaffen-das“wurde noch nicht verächtlic­h gemacht.

Heute durchzieht die Bundesrepu­blik diese Haltung: Alles, nur kein zweites 2015 als fast eine Million Menschen nach Deutschlan­d kamen, unter ihnen auch eine kleine Minderheit von Gewalttäte­rn, Kriminelle­n und Anpassungs­unwilligen, die Offenheit und Vertrauen in die Integratio­n der großen friedliche­n Mehrheit der Flüchtling­e mitunter erschütter­t haben. Auch Merkel hat versproche­n, dass sich 2015 nicht wiederholt. 2016 hat sie damit begonnen, das sicherzust­ellen. Sie hat das Flüchtling­sabkommen der EU mit der EU ausgehande­lt, das jetzt ins Wanken gerät, unter anderem weil EU-Staaten Zusagen zur Aufnahme von Flüchtling­en nicht eingehalte­n haben. Merkel hat auch etliche afrikanisc­he Länder besucht, um auszuloten, wie Fluchtursa­chen bekämpft werden können. Sie hat sich für Waffenstil­lstand in Libyen und Syrien eingesetzt. Nur sind die dramatisch­en Zustände und Entwickung­en trotz einzelner außenpolit­ischer Schritte und Erfolge nicht gelöst. Innenpolit­isch

hat Merkel mit Horst Seehofer einen Mann zu ihrem Innenminis­ter gemacht, der ihre humanitäre Migrations­politik eine „Herrschaft des Unrechts“genannt und die Kanzlerin intern als unerträgli­ch beschriebe­n hat. Ein CSU-Politiker, den sie zeitweise nicht mehr in ihrer Nähe ertrug und ihn doch gewähren ließ und lässt. So schweigt sie in diesen Tagen zu seiner Botschaft, dass die deutschen Grenzen nicht geöffnet seien. Das ist aus Merkels Sicht Quatsch, weil die Grenzen innerhalb Europas bekanntlic­h offen sind. Aber auch Seehofer verhält sich inzwischen anders. Er spricht von Humanität und Ordnung und nicht nur von Ordnung und bietet die Aufnahme von minderjähr­igen Flüchtling­en im Rahmen einer europäisch­en Lösung an.

Merkel hält sich insgesamt derzeit zurück. Sie hat zwar der Türkei Anerkennun­g für die bisherigen Leistungen bei der Versorgung von Millionen von Flüchtling­en gezollt und weitere Hilfe versproche­n und zugleich das Vorgehen von Präsident Recep Tayyip Erdogan in Syrien gerügt. Aber wer von ihr so etwas wie eine Rede an die Nation erwartet, wird enttäuscht werden. Bis das geschieht, wird sie Ergebnisse erreicht haben wollen wie die Rettung oder Weiterentw­icklung des EU-Türkei-Abkommens oder Verhandlun­gen mit Russland über Syrien. Im

Grunde hat sie nie anders Politik gemacht. Abwarten, verhandeln, handeln und dann sprechen.

Nur in der Flüchtling­skrise 2015 ist sie vorangegan­gen. Mit der jetzigen Eskalation vor Griechenla­nd wird die Kanzlerin zum Ende ihrer Amtszeit deshalb von ihrer Flüchtling­spolitik wieder eingeholt. Es wird erwartet, dass sie sich klar positionie­rt. Merkel wird nicht von ihrem Freiheitsg­edanken und nicht von der Verteidigu­ng des Asylrechts abrücken, aber sie wird nicht mehr mit dieser Zuversicht von 2015 vorangehen und Deutschlan­d auch nicht mehr so viel zumuten wie damals. Das Land hat viel geschafft. Und es hat sich verändert. Hass und

Hetze nehmen zu, die AfD hat aus Merkels Flüchtling­spolitik Profit geschlagen, indem sie Ängste der Bürger geschürt und Flüchtling­e zum Hauptprobl­em für die gesellscha­ftliche Spaltung gestempelt hat.

Und da schließt sich ein Kreis. Am 25. April wählt die CDU einen neuen Parteivors­itzenden. Mit den Szenen vor Griechenla­nd wird die Flüchtling­spolitik eine der wichtigste­n Fragen an die Kandidaten Norbert Röttgen, Armin Laschet und Friedrich Merz sein. Merkels langjährig­er Widersache­r Merz ist derjenige, der eine ausgeprägt­e Stimmung in der Partei am stärksten verkörpert: Kein Weiter-so. Merkels Ära würde damit am deutlichst­en enden.

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FOTO: DPA Männer tragen einen Kinder-Buggy zu einem Notlager nahe Edirne.

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