„35-Stunden-Woche für die Pflege“
Die Grünen-Chefin zum Frauentag, über das deutsche Gesundheitssystem und die Frage, welcher CDU-Chef für die Grünen der beste wäre.
BERLIN Grünen-Chefin Annalena Baerbock ist am Anfang nur als „die neben Robert Habeck“wahrgenommen worden. Dass die beiden längst auf Augenhöhe sind und dass offen ist, wer als Spitzen- oder Kanzlerkandidat in die nächste Bundestagswahl geht, hat sich die durchsetzungsstarke 39-Jährige vor allem selbst zu verdanken.
Frau Baerbock, der internationale Frauentag – ist das für Sie ein Feiertag, ein Gedenktag oder ein Kampftag?
BAERBOCK Alles zusammen. Es ist ein Kampftag nach wie vor, weil Frauenrechte in den vergangenen 100 Jahren nicht einfach so vom Himmel gefallen sind. Die wurden errungen, immer und immer wieder. Egal ob beim Wahlrecht, dem Recht, ohne die Unterschrift des Mannes arbeiten zu dürfen, oder beim Recht auf gleiche Entlohnung – dafür haben Frauen kämpfen müssen. Es ist aber auch ein Feiertag, an dem wir all die großen Frauen feiern, denen etwa meine Generation viel zu verdanken hat. Und es ist auch ein Gedenktag, an dem wir erinnern, wofür wir so hart gekämpft haben, und jener Frauen gedenken, die dafür angegriffen worden sind und immer noch werden, aufgrund ihres Geschlechts.
In der Pflege arbeiten in der Mehrzahl Frauen. Wird die Pflege erst zu einem attraktiven Beruf für Männer, wenn die Beschäftigten so gut bezahlt werden wie Facharbeiter? BAERBOCK Ja, auch diese Lohnungleichheit ist kein Zufall. Wir widmen daher den internationalen Frauentag in diesem Jahr den Pflegeund Fürsorgekräften in Deutschland. Jede dritte erwerbstätige Frau arbeitet in einem der sogenannten Care-Berufe. Das sind Erzieherinnen, Hebammen, Kranken- und Altenpflegerinnen. Sie kümmern sich um unsere Eltern und Kinder, und wir verlassen uns auf sie, wenn wir selbst in Notlagen geraten. Sie sind das Rückgrat unserer Gesellschaft, erfahren aber für ihre wertvolle Arbeit nicht die entsprechende Anerkennung. Da helfen also nicht nur warme Worte zum Frauentag, sondern es muss sich politisch etwas ändern.
Gesundheitsminister Spahn hat die Not in der Pflege zu einem seiner Hauptthemen gemacht. Hat sich schon etwas verbessert?
BAERBOCK Gut ist, dass es endlich eine gesellschaftliche Debatte gibt. Aber entscheidend ist: Was folgt daraus? Die Konzertierte Aktion Pflege, auf die sich die Bundesregierung zurückzieht, scheint nicht die erhofften Früchte zu tragen. Heute sind 40.000 Stellen in der Pflege unbesetzt. Bis 2030 bräuchten allein die stationären Pflegeeinrichtungen bis zu 74.000 Pflegefach- und bis
Das ist die größte Hürde in meinem Leben, und das könnte mir helfen: Meistens hat der Tag einfach zu wenig Stunden. Neben Arbeit und Studium noch etwas vom Studentenleben mitzunehmen, dabei gute Noten zu schreiben, seine Freunde zu treffen und regelmäßig Sport zu treiben, ist manchmal gar nicht so einfach. Aber vermutlich würde ich den Tag auch dann zu voll packen, wenn ich täglich mehr Stunden zur Verfügung hätte.
Hilfreich wäre, wenn sich die Öffnungszeiten von Ämtern, Läden und auch Ärzten an traditionelle Arbeitszeiten anpassen würden, oder noch besser: die Arbeitszeiten an die Öffnungszeiten. Ich bin große Verfechterin einer 30-Stunden-Woche. Vermutlich würde es schon reichen, wenn die Läden auch sonntags geöffnet hätten – ein zusätzlicher Tag, um shoppen gehen zu können.
Dafür hätte ich gerne mehr Zeit:
Im Allgemeinen für Freizeit. Um zu zu 112.000 Pflegeassistenzkräfte zusätzlich. Wir brauchen deutlich mehr Fachkräfte, nicht nur in der Pflege, sondern ebenso in Kitas. Die gewinnen wir aber nur, wenn sich neben angemessenen Löhnen die Arbeitsbedingungen ändern. Die tägliche Arbeitsrealität – dass eine Person für zwei oder drei arbeiten muss – führt dazu, dass viele irgendwann sagen: Ich kann einfach nicht mehr. Die Folgen sind ein früherer Ausstieg aus dem Beruf, viele Krankheitsfälle oder Arbeiten in Teilzeit, was bei dem ohnehin geringen Lohn auch noch zu der Schwierigkeit führen kann, finanziell mit der Familie nicht über die Runden zu kommen. An diese gesellschaftliche Ungerechtigkeit müssen wir ran.
Was schwebt Ihnen vor?
BAERBOCK Ich könnte mir vorstellen, dass wir in Berufen mit einer hohen psychischen und physischen Arbeitsintensität wie der Pflege, die aufs Kreuz gehen und in denen Menschen im Zweifel auch schon mit 50 Jahren aufgeben müssen, zu einer Arbeitszeitverkürzung kommen: also 35 Wochenstunden bei vollem Lohnausgleich.
Wie lange kann die EU zusehen, dass die Türkei ein zynisches Spiel treibt und versucht, Europa mit den Flüchtlingen zu erpressen? BAERBOCK Europa muss seine Handlungsfähigkeit unter Beweis stellen. Das zynische Spiel funktioniert ja vor allem, weil die EU nun in Panik verfällt und auf diejenigen, die als Spielmasse von Herrn Erdogan missbraucht werden, mit Tränengas geschossen wird. Es steht gerade die Flüchtlingskonvention auf dem Spiel. Und damit ein fundamentales Grundrecht der EU. Wenn jetzt ein
reisen, Freunde zu treffen, und für meine Familie, die viel zu oft zu kurz kommt. Mehr Zeit, um Sport zu treiben, aber auch um mich mal wieder dem Freihandzeichnen zu widmen oder einfach mal ein Buch zu lesen. Dazu komme ich eigentlich nur noch im Urlaub.
Darauf bin ich in meinem Leben besonders stolz:
Ich mache zurzeit meinen Master in Architektur. Neben meinem Studium habe ich immer gearbeitet, hauptsächlich um mir meine Leidenschaft fürs Reisen finanzieren zu können. Mit meinem Freund mache ich gerne längere Roadtrips, letztes Jahr waren wir zum Beispiel in Kapstadt. Im April beende ich mein Studium, und das trotz zwanzig Stunden Arbeit in der Woche fast in Regelstudienzeit. Dass ich es in den letzten Jahren geschafft habe, mein Studium, die Arbeit im Architekturbüro und auch das Reisen unter einen Hut zu bekommen, macht mich stolz.
Mitgliedstaat ein Grundrecht aussetzt und alle schweigen, wo hört das auf? Heute ist es das Recht auf Asyl in Griechenland. Und morgen die Meinungsfreiheit in Ungarn? Ja, es ist unsere gemeinsame Verpflichtung, die EU-Außengrenze nicht unkontrolliert zu öffnen, dazu gehören aber gleichzeitig unsere humanitäre Schutzverantwortung und die Verteidigung unserer Werte.
Muss das EU-Türkei-Abkommen nachverhandelt werden?
BAERBOCK Dieser Deal ist gescheitert. Nicht erst in den letzten Tagen, sondern in den furchtbaren Lagern von Lesbos, wovor wir Grüne immer gewarnt hatten. Statt dieses gescheiterten Deals brauchen wir ein neues, rechtsstaatlich garantiertes Abkommen, das aus den Fehlern der Vergangenheit lernt, dafür sorgt, dass Menschen gut versorgt sind und die 27 EU-Staaten nicht wie Dominosteine umfallen, wenn Erdogan einmal pustet. Europäische Souveränität zeigt sich darin, dass die EU weitere verbindliche finanzielle Zusagen macht für die Unterstützung der über vier Millionen Geflüchteten in der Türkei. Sie brauchen Zugang zu Schulen, Krankenhäusern und zum Arbeitsmarkt. Zu einer funktionierenden Vereinbarung gehört auch die verlässliche Zusage für die Umsiedlung von besonders schutzbedürftigen Menschen aus der Türkei nach Europa – gerade im Lichte der zugespitzten Situation in der Region Idlib. Die türkische Seite muss hingegen aufhören, Menschen als Verhandlungsmasse zu missbrauchen, und die Rechte von Schutzbedürftigen wahren.
Da kommt Russland ins Spiel… BAERBOCK Ja, wir erleben doch seit Jahren, dass Staaten wie Russland die Lücke dort füllen, und zwar mit Gewalt – wo die EU untätig bleibt oder versagt. Nun gibt es eine Einigung zwischen Russland und der Türkei für eine Waffenruhe in der syrischen Region Idlib. Für die internationale Gemeinschaft heißt das: Es muss unverzüglich humanitäre Nothilfe ins Land, ein humanitärer Korridor muss geschaffen werden, damit Kinder nicht weiter erfrieren. Und es braucht die knallharte Ansage der EU: Wenn wieder Bomben fallen auf Zivilisten und Krankenhäuser, dann wird es individuelle Sanktionen geben.
Zerlegt sich die CDU im Kampf um Merkels Erbe?
BAERBOCK Ich hoffe es nicht.
…weil die Grünen die CDU noch brauchen?
BAERBOCK Niemandem ist damit gedient, wenn erst die Sozialdemokraten und dann die Union, die dieses Land über 70 Jahre im Westen und über 30 Jahre im Osten mitgeprägt haben, als demokratische, stabilisierende und ordnende Kräfte ausfallen. Ein schwaches System von demokratischen Parteien und geschwächte Parlamente – davon profitieren am Ende Populisten und Rechtsextreme.
Wer von den drei bisher sichtbaren Kandidaten für den CDU-Vorsitz ist der beste, damit die Grünen ihr Profil an ihm schärfen können? BAERBOCK Ich glaube, die CDU schafft es schon ganz alleine, diese Frage zu klären. Ich würde mich umgekehrt jedenfalls bedanken, wenn sie entscheiden wollten, wer bei den Grünen Spitzenkandidatin oder Spitzenkandidat wird.
Nämlich wer?
BAERBOCK Alles zu seiner Zeit.