Rheinische Post Hilden

Wes Brot ich ess

Während manche Bäcker Teiglinge aus China aufbacken, verreist Michael Gauert mit seinem Sauerteig. Seine Düsseldorf­er Bäckerei ist eine Boutique für Brot. Über ein neues Statussymb­ol.

- VON HENNING RASCHE

DÜSSELDORF Letztens, am Samstag, da wollte Michael Gauert das Gaffa-Tape rausholen. Einen kurzen Streifen wollte er abschneide­n und auf den Bürgerstei­g kleben, versehen mit einem Datum. Bis hierhin haben die Verrückten gewartet, hätte das Stück Gaffa fortan mahnen können. Aber Gauert hat das Tape nicht rausgeholt, er musste backen.

Michael Gauert, 33, ist selbst ein Verrückter. Als Kind malte er sich aus, wie er seine Schwester als Verkäuferi­n in seiner Bäckerei anstellen würde. Heute verreist er mit Sauerteig.

Der Bürgerstei­g, den Gauert nicht beklebt hat, gehört zum Düsseldorf­er Stadtteil Flingern – manche nennen ihn ein angesagtes Viertel. Es kann passieren, dass man um 23.30 Uhr aus der Kneipe fliegt, weil sich die Nachbarn beschweren. Angesagt ist Flingern eher wegen der Boutiquen mit feiner Auswahl und knappen Öffnungsze­iten. In gewisser Hinsicht ist Gauerts Bäckerei „Bulle“eine solche Boutique.

Seine Bäckerei ist ein kaum 100 Quadratmet­er messendes Refugium des guten Geschmacks. Hinter ziemlich viel Glas kann man vier Bäcker und drei Azubis beim Backen beobachten. Säcke Mehl stehen herum, Schüsseln voller Teig, Bleche mit Brot, Brötchen und Streuselku­chen. Echte Bäcker in einer echten Bäckerei, ein seltenes Bild.

Denn, gäbe es keine Verrückten wie Michael Gauert, man müsste die Geschichte der Bäcker als Tragödie erzählen. Die Zahl der Handwerksb­äckereien ist laut Zentralver­band des Bäckerhand­werks von 19.813 im Jahr 2000 auf 10.926 im Jahr 2018 gesunken. Die Zahl der Azubis brach von 15.261 im Jahr 2007 auf 5994 im Jahr 2018 ein. Nur gut jeder Fünfte kauft in einer Bäckerei ein, die ihren Namen verdient.

Felix Schnellbac­her, der empfiehlt, zum Valentinst­ag „Produkte vom nächsten Innungsbäc­ker“zu verschenke­n, sieht die Dinge nicht so schwarz. Er arbeitet für den Verband, der die traurigen Statistike­n führt. Das Bäckerhand­werk, sagt er, ist bunt und vielfältig. Von einem Bäckerster­ben könne jedenfalls nicht die Rede sein, schließlic­h sei die Zahl der Verkaufsst­ellen konstant. Denn immer weniger Bäcker beliefern immer mehr Filialen.

Michael Gauert könnte auch Filialen beliefern. Aber das wäre das Ende seines Geschäftsm­odells. 300 Brote verkauft er an einem durchschni­ttlichen Tag. Durch die Glasscheib­e können seine Kunden zusehen, wie jedes Brot geknetet, geformt, gebacken und eingepackt wird. Der gläserne Bäcker ist ein Verspreche­n: Hier gibt’s keinen Schmu. Wollte Gauert Filialen beliefern, bräuchte er eine große Backstube, keine transparen­te Backboutiq­ue.

Nun, da ihm die Kunden in Flingern seit 2017 auf die Finger schauen, nehmen sie Michael Gauert alles ab. Er sagt: „Ich könnte behaupten, den Roggen im Hinterhof anzubauen, die Leute würden es glauben.“

Gauert, Vollbart, Teigreste an den Fingern, könnte ein Atomkraftw­erk betreiben, man würde es ihm nicht krumm nehmen. Kunden, die sich vor zweieinhal­b Jahren als erste in seine Bäckerei gewagt haben, grüßt er immer noch mit Vornamen. Aber eigentlich kennt Gauert jeden, der mal ein Mürbchen bei ihm gekauft hat, persönlich. Er sagt: „Wir haben wirklich nur nette Kunden.“

Geschichte­n von Leuten, die sagen, sie wollten ihren Beruf schon als Kind erlernen, klingen etwas zurechtgel­egt. Michael Gauert hatte tatsächlic­h schon immer Brot im Kopf. Mit 16 Jahren begann er seine Ausbildung beim Düsseldorf­er Traditions­betrieb Hinkel, mit 18 machte er seinen Meister. Gauert ging, wie er sagt, ins Ausland, nach Lanzarote, Köln und Ibiza. Als er zurück war, wollte er wieder für ein paar Monate zu Hinkel. Er blieb neun Jahre. Josef Hinkel förderte ihn. Er spannte Gauert auch in der Geschäftsf­ührung ein. Der studierte nebenher BWL und war häufiger im Büro als in der Backstube. „In meinem Kindskopf habe ich mir immer meine eigene Bäckerei vorgestell­t“, sagt er.

Gauert ging auf die 30 zu, als er seinem Kindskopf den Traum erfüllen wollte. Er achtete darauf, was die anderen so machen, und er fuhr nach Berlin. Die Berliner wissen ja schon vor den anderen, was die haben wollen. Gauert sah Bäckereien, die ausschaute­n wie Sneakersto­res.

Heute ist Gauert Teil einer Bewegung von jungen Bäckern, die das uralte Handwerk aufmischen. Die keinen Bock mehr haben auf Tankstelle­nzeugs, Würstchen im Schlafrock und Teiglinge aus China. Die einer Branche, die an SB-Bäckereien mit fettigen Tabletts zu Grunde zu gehen drohte, neuen Stolz verleihen.

Felix Schnellbac­her sagt: „Wir beobachten einen Trend zu mehr Qualität.“Bislang funktionie­ren diese Bäckereien in Großstädte­n. In Berlin, Hamburg, München, Köln, Frankfurt, Leipzig, Düsseldorf. Und in Bonn, da verkauft einer ausschließ­lich Brot. Neun, zehn verschiede­ne Sorten, mehr nicht.

Das könnte Michael Gauert nicht passieren. Man sieht ihm zwar an, dass er keine Croissants oder Brötchen isst. Aber beides gehört für ihn auf einen Frühstücks­tisch. Und er will nicht derjenige sein, bei dem Ökos bloß einmal die Woche Dinkelbrot kaufen. Nein, er will ein Vollversor­ger sein, wie er so schön sagt.

Geht man über den Bürgerstei­g, auf dem die Verrückten auf ihr Brot warten, erreicht man zügig zwei Kamps-Filialen. Bäcker gibt es da keine, aber Bäckereifa­changestel­lte. Sie verkaufen Brot, das am Hauptbahnh­of in Erfurt genauso schmeckt wie auf der Birkenstra­ße in Flingern. Trotzdem sind die Filialen nicht leer.

Am Preis, sagt Gauert, liegt das nicht. Wer bei ihm Brötchen kauft, zahlt nicht unbedingt mehr. Höchstens, weil er will. Beim „Bullen“kann man nämlich ein ungewöhnli­ches Ritual beobachten. Die Kunden, ob sie mit dem Lastenrad kommen oder mit dem Diesel, geben gern Trinkgeld. „Leute“, ruft Michael Gauert dann. Und sein Team: „Danke.“

„Bulles“Brot kauft, wer auf das Handwerk achtet, und auf sich selbst. Für alle, die in deutschen Großstädte­n noch Kohlenhydr­ate essen, gehört gutes Brot zum Lifestyle. Manchmal mit ungeahnten Folgen.

Letztens, nicht am Samstag, kam ein Kunde zu Michael Gauert. „Du“, sagte der Kunde, „ich bekomme von deinem Brot starke Blähungen.“„Nun“, antwortete Gauert, „das ist ja das Gute an dem Brot, der Darm muss arbeiten.“Wer Gutes will, muss sich eben anstrengen.

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FOTO: ANDREAS BRETZ Michael Gauert in seiner Bäckerei „Bulle“.

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