„Ohne Leute wie Rudi gäbe es nur Glattgebügelte“
Der frühere Sportmoderator Waldemar Hartmann gratuliert dem ehemaligen Nationaltrainer Rudi Völler zum 60. Geburtstag. Die beiden verbindet eine lange Freundschaft, aber auch ein legendärer TV-Moment, in dem Völler Hartmann angriff.
Die Grätsche an der Mittellinie hätte sich Jonathan Tah wirklich sparen können. Nach dem Foul an Timo Werner im Spiel zwischen Leipzig und Leverkusen sieht Bayers Abwehrspieler eine der wohl unnötigsten Gelben Karten in dieser Saison. Einen Zuschauer auf der Haupttribüne regt das besonders auf: Rudi Völler. Er schimpft, gestikuliert, hadert, und schimpft erneut. Ein echter Rudi eben. Plötzlich drehen sich die Zuschauer neben ihm mit einem Grinsen im Gesicht zu mir um. Ich zucke nur mit den Schultern und sage noch breiter grinsend: „So kenne ich den Rudi ja gar nicht!“
Jeder Mensch hofft darauf, in seinem Berufsleben etwas Besonderes zu erleben. Ich hatte das große
Glück, meinen Moment mit einer der größten Legenden des deutschen Fußballs zu teilen. Was für Günther Jauch und Marcel Reif das umgefallene Tor in Madrid war, ist für mich das Interview mit Rudi nach dem 0:0 der DFB-Auswahl in Island.
Nachdem meine ARD-Kollegen Günter Netzer und Gerhard Delling den Auftritt der Nationalelf kritisiert hatten, brodelte es im damaligen Nationaltrainer. Mit jeder Minute redete er sich immer mehr in Rage. Ich bin einfach ruhig geblieben. Der Rest ist TV-Geschichte.
Nur vier Tage später spielte Deutschland in Dortmund gegen Schottland. Die Gäste von der Insel wurden zu der Zeit von Berti Vogts trainiert, was dem Duell zusätzliche Brisanz verlieh. Eine ganze Nation war zudem gespannt darauf, zu erfahren, was nach Rudis Wutrede passieren würde. Bei einigen Anbietern
konnte sogar darauf gewettet werden, ob er dem Delling eine kleben oder ob wir beide nach der Partie gemeinsam ein Weißbier trinken würden.
Der Hype war irre. Deutschland gewann 2:1 und Rudi und ich führten im Anschluss an die Partie das wohl emotionsloseste Gespräch meiner Berufslaufbahn. Dennoch sahen elf Millionen Menschen zu – ein bis heute unerreichter Einschaltquoten-Rekord bei Interviews im deutschen Fernsehen.
Nach Rudis Ausraster spekulierten fast alle Medien, dass der TV-Auftritt ihm den Job als Nationaltrainer kosten könnte. Doch das Gegenteil war der Fall. Beim Spiel in Dortmund sangen rund 70.000 Zuschauer den Klassiker: „Es gibt nur ein‘ Rudi Völler.“Er war beliebter als je zuvor.
Kennengelernt haben Rudi und ich uns Anfang der 80er Jahre. Er spielte zu der Zeit für 1860 München, ich arbeitete beim Bayerischen Rundfunk. Wir haben uns schon immer gut verstanden und gemocht. Der Gewinn der Weltmeisterschaft 1990 in Italien, bei der ich für die ARD vor Ort war, hat uns noch einmal näher zusammengebracht. Ohne unsere gemeinsame Vorgeschichte wäre der Vorwurf, ich hätte drei Weizenbier getrunken, so wohl nie gefallen.
Apropos: Ein großer Weißbiertrinker war ich nie. Ich habe Rudi später mal gefragt, wie er denn darauf gekommen sei, ich hätte drei Weißbier getrunken. Er konnte es sich nur so erklären: Anfang der 2000er gehörten zum Mitarbeiterstab der DFB-Auswahl viele Bayern, unter anderem Physio Klaus Eder, Mannschaftsarzt Hans Müller-Wohlfarth und Torwarttrainer Sepp Maier. Eder hatte auch zu den Auswärtsspielen immer eine Ration Weißbier im Gepäck. Wenn die Trainer und Physios dann am Abend zusammensaßen und den Tag analysierten, gab’s halt Weißbier. Und da ich für Rudi als Mitglied der „Lodenfraktion“der ARD eben auch ein Bayer war, war ich für ihn nun mal auch Weißbiertrinker.
Wenn es nach ihm ginge, würde er die Geschichte mit dem Interview am liebsten aus seinem Leben streichen – und das bis heute. Ich kann das nicht nachvollziehen, da der Ausraster ihn noch populärer gemacht hat, als er ohnehin schon war. Böse war ich ihm deswegen ohnehin nie. Und das nicht nur, weil ich fortan eben der Weißbier-Waldi war und er mir dank des Vertrags mit einer großen Münchner Brauerei meine „Rudi-Rente“beschert hat.
Ich bin vorsichtig mit der Bezeichnung „Freund“. Aber Rudi und ich pflegen sicher ein freundschaftliches und vertrauensvolles Verhältnis. Da wo ich herkomme, sagt man Spezi dazu. Bei Rudis 50. Geburtstag vor zehn Jahren war ich auf Wunsch seiner Frau Sabrina als Überraschungsgast eingeladen und habe ihm dabei ein Tablett mit drei Weißbier serviert. Ich habe sie gefragt, warum ich als einziger Journalist eingeladen sei und sie antwortete, dass ich eben zur Familie gehöre. Das hat mich natürlich stolz gemacht.
Die Menschen schätzen Rudis Direktheit. Er trägt das Herz auf der Zunge. Wenn Leute wie er nicht mehr da wären, gäbe es nur noch die Glattgebügelten, die Grauen. Dann wäre der Fußball nur noch berechnendes Geschäft. Rudi ist da auch heute noch eine wohltuende Ausnahme. Er ist ein grundsätzlich positiv gestimmter und, wie ich es immer erlebt habe, harmoniebedürftiger Mensch. Er verstellt sich nicht. Er hat Spaß am Leben und lässt auch Spaß zu. Wenn ihm etwas gegen den Strich geht, dann schluckt er es nicht einfach herunter, sondern spricht aus, was viele andere nur denken. Ärzte würden dazu wohl sagen, dass das gut für den Magen ist.
Wenn ich Rudi in den vergangenen Jahren beobachtet habe, dann musste ich schon ab und an schmunzeln. Zum Beispiel, wenn er sich mal wieder über seinen Lieblingsschiedsrichter Felix Zwayer aufregte. Emotionen gehören zum Fußball. Und wenn Rudi Emotionen zeigt, dann macht er das nur, wenn er sich ganz sicher ist, dass Unrecht geschieht. Ähnlich wie es Uli Hoeneß jahrzehntelang bei den Bayern gemacht hat.
Rudi ist nicht nur eines der Gesichter des deutschen Fußballs, sondern auch das Aushängeschild von Bayer Leverkusen. Als Reiner Calmund damals die Brasilianer ins Rheinland mit einem großen Koffer Geld in die Bundesliga nach Leverkusen locken wollte, hat das zunächst nicht gereicht. Bayer war eben nicht Bayern. Mit Rudi als Repräsentanten des Werksklubs war es für ihn dann deutlich einfacher, die Spieler zu überzeugen. Leverkusen darf sich glücklich schätzen, dass Rudi dem Verein bis heute die Treue hält. Seit Calli weg ist, ist Rudi für Bayer 04 so wichtig wie Aspirin für die Bayer AG.
Dass Rudi der letzte WM-Held von 1990 ist, dessen Ansehen auch 30 Jahre nach dem Titelgewinn in der gesamten Republik nie gelitten hat, ist kein Zufall. Beliebt wird man nicht, wenn es eine Agentur planen will. Wie das schief gehen kann, hat Stürmerkollege Jürgen Klinsmann gerade in Berlin nachgewiesen.
Am Montag wird Rudi 60. Ich kann ihm nur raten, dass er so lange weiter machen soll, wie er noch kann und Lust hat. Rudi muss dem Fußball erhalten bleiben. Ich bin jetzt 72 und kann ihm versichern: Es hat sich seit meinem 60. nicht viel verändert – und das gilt von Kopf bis Fuß.
„Rudi ist der letzte WM-Held von 1990, dessen Ansehen in der gesamten Republik nie gelitten hat“