Freiheit in der Fahrgastzelle
Das zuletzt als Umweltsünder vielgeschmähte Auto entpuppt sich in Pandemiezeiten als Rettungskapsel – weil es ein sicheres Gemeinschaftserlebnis bietet. Im eigenen Pkw wird gefeiert, gebetet und geheiratet.
Gerade war das Auto noch mit Vollgas unterwegs auf den Schrotthaufen der Mobilitätsgeschichte, plötzlich erlebt es eine wundersame Image-Politur. Corona macht’s möglich. Vom Klimakiller hat sich das Gefährt im öffentlichen Meinungsbild zum Schutzpanzer gegen das tückische Virus gewandelt – zumindest zeitweise. Im Auto wird gefeiert, gebetet und geheiratet, es werden Filme geschaut, Konzerte gehört und Messen gehalten. Nichts scheint unmöglich, wenn es denn erfahrbar ist. Das Freiheitsversprechen, das dem Automobil vor Jahrzehnten den Weg ebnete, scheint sich auf absurde Weise wieder zu erfüllen. Denn nur in der eigenen Fahrgastzelle darf man sich frei fühlen von der Gefahr einer Ansteckung: My car is my castle.
Als erstes öffneten allerorten Autokinos – ein fast vergessenes Relikt aus Wirtschaftswunderzeiten, das mit einer Handvoll Leinwänden nur noch ein Nischendasein fristete. Bis das Virus kam. Rund 70 Corona-Kinos sind in den vergangenen zwei Monaten bundesweit entstanden, Tendenz steigend. Bis Mitte April hat die Bundesnetzagentur bereits 40 Radiofrequenzen vergeben (die Tonspur der Filme wird über UKW an die Autoradios übertragen) – mehr als 80 weitere Anträge warten darauf, bearbeitet zu werden. Die Vorstellungen sind oft auf Tage hinaus ausgebucht, so groß ist die Sehnsucht nach einem sorglosen Gemeinschaftsgefühl. Dazu kommt der wärmende Nostalgiefaktor, das Echo der guten alten, weitgehend seuchenfreien Zeit.
Der Erfolg hat auch andere motiviert, vor einem gut gefüllten Parkplatz aufzutreten, bevor man gar nicht auftritt. So spielte die Kölner Band Brings zwei Konzerte im Autokino in Porz, Kabarettisten wie Konrad Beikircher, Ingo Appelt und Jürgen Becker kommen ins Kino Starpac an der Rennbahn in Mönchengladbach, selbst ein Starpianist wie Alexander Krichel wagte sich in Iserlohn vor eine Phalanx aus Blech. Statt Applaus wird wahlweise gelichthupt oder gewarnblinkt, mal auch gescheibenwischert. Hauptsache Lebenszeichen. Wobei es den Beifall wohl zu dosieren gilt – mancher derart geplagten Autobatterie geht angesichts von Film-Überlänge oder begeisterter Lichthuperei gerne mal der Saft aus.
An Ideen, Menschen im Auto zu bespaßen, herrscht kein Mangel. Die Betreiber der Lanxess Arena in Köln denken zum Beispiel darüber nach, Autos für Konzerte in die Halle fahren zu lassen, 220 Wagen würden hineinpassen. In Recklinghausen werden Autos zu Stars der Manege: Am 23. Mai startet dort Deutschlands erster Auto-Zirkus mit Jonglagen, Artistik und Stunts rund ums rollende Gefährt und geht danach auf Tour. In Schüttorf will eine Autodisco in einsamen Zeiten Partygefühl vermitteln, in Ascheberg haben die Mitglieder des Kolpingsspielmannszug kurzerhand eine Wagenburg gebaut und aus dem Auto heraus geprobt. Aber auch Hochzeiten wurden bereits vor Automobilisten gefeiert und Gottesdienste abgehalten vor der PS-Gemeinde.
Das uramerikanische Drive-inPrinzip, entstanden aus der Verklärung des Automobils und unerschütterlichem Fortschrittsglauben, hierzulande als Ausdruck kultureller Beschränktheit und grenzenloser Faulheit belächelt, erlebt also eine aus der Not geborene Renaissance. Die nicht nur anhand gut besuchter Kinoabende messbar ist. Eine aktuelle Studie des Instituts für Verkehrsforschung des Deutschen Zentrums für Luft- und Raumfahrt kommt zu dem Ergebnis, dass der privat genutzte Pkw – neben dem Fahrrad – derzeit als klarer Gewinner aus der Krise hervorgeht. Das eigene Auto vermittele das größte Sicherheitsgefühl, und es besitze im Vergleich zu anderen Verkehrsmitteln den höchsten Wohlfühlfaktor.
Damit erfüllt sich in der Krise ein lang gehegter Traum der Hersteller, die ihre Fahrzeuge in Werbekampagnen gerne als rollende Wohnzimmer verkaufen wollten, angesichts des zuletzt akuten Statusverfalls ihrer Produkte aber nur noch mit der wenig aufregenden Vision klimafreundlicher Antriebe bewarben. Nun erklären die Menschen selbst ihre Fahrzeuge zum privaten Rückzugsraum, in dem sie virenfrei so etwas wie Miteinander erleben dürfen. Ganz nah – der Begriff „Knutschkugel“für den VW Käfer kam nicht von ungefähr – aber auch sozusagen Autotür an Autotür. Und der nächste Schritt steht kurz bevor: Wenn Flugzeug, Bahn und Bus als potenzielle Virenschleudern angesehen werden, schlägt auch im Urlaub die Stunde des Autos. Fahrt über den Brenner reloaded.
Schon grämen sich viele Großstädter, die das Auto abgeschrieben und abgeschafft hatten. Vor allem bei den Jüngeren hatte es schon lange an Status verloren, wurde eher als Spielzeug der Vorgestrigen und Symbol des Untergangs wahrgenommen. Sie setzten im Individualverkehr eher aufs Fahrrad, das zwar dank Freiluft-Chassis auch einen gewissen Virenschutz bietet, aber längst keine mobile Heimeligkeit. Das vielgeschmähte Auto könnte in Pandemie-Zeiten so etwas werden wie eine Rettungskapsel, in die jeder gerne einsteigen möchte. Tempolimit, Fahrverbote, war da was? Dem Klima hilft das alles nicht, davon ist wohl auszugehen. Aber die Zulassungszahlen steigen wieder.
Die Freiheit, die das Auto heute verspricht, ist freilich eine andere. Früher war das Auto auch ein Fluchtfahrzeug, und das Versprechen lag im Weg begründet, der im besten Fall zu sich selbst führen konnte, aber eben auch ins Nirgendwo. „Road Movies“nannten die Amerikaner diese Filme deshalb. Heute liegt die Freiheit des Autos nicht mehr im unbekannten Ziel, sondern in sich selbst, in der Sicherheit der Fahrgastzelle. So lange wir nicht wieder aussteigen dürfen, bleibt sie aber leider genau das – eine Zelle.