Jetzt wird die Zeit wirklich knapp
Schaffen es die Europäische Union und Großbritannien noch, sich vor Jahresende auf ein Abkommen zu einigen? Die Chancen darauf sollen jüngst gestiegen sein. Beim EU-Gipfel bekräftigen die Mitgliedstaaten ihre Position.
BRÜSSEL Mit einer gewissen Genugtuung reisten die Staats- und Regierungschefs nach Brüssel. Wieder einmal verstreicht ein Ultimatum, das der britische Regierungschef Boris Johnson Brüssel gesetzt hat. Wieder einmal hat er nur geblufft und wird dann doch nicht den Tisch verlassen, an dem über die künftigen Beziehungen zwischen der EU und dem Königreich verhandelt wird. Nach einem Telefonat mit Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen und Ratspräsident Charles Michel am Mittwochabend ließ Johnson wissen: Er wolle am Montag im Lichte der Gipfelbeschlüsse bekannt geben, wie es aus seiner Sicht weitergehen soll.
Dabei waren die Gipfelbeschlüsse da bereits absehbar. In einem Entwurf, der unserer Redaktion vorliegt, bekräftigen die 27 EU-Staaten, nicht diejenigen sein zu wollen, die die Verhandlungen abbrechen. Das Dokument gibt dem EU-Chefunterhändler Charles Michel die volle Rückendeckung und verlangt, dass Johnson das umstrittene Binnenmarktgesetz zurücknimmt, das eine Verletzung des bereits beschlossenen Austrittsabkommens darstellt. Um zu zeigen, dass die EU nicht naiv ist, fordern die „Chefs“die Kommission auf, zu den bereits beschlossenen über 100 Notfallmaßnahmen im Falle eines ungeregelten Brexits am Ende der Übergangsperiode Ende Dezember noch weitere vorzubereiten.
Angela Merkel, die bis Dezember im Zuge der deutschen EU-Ratspräsidentschaft die Geschäfte im Rat führt, sagte zu Beginn des Gipfels: „Wir wollen ein Abkommen, aber zu einem fairen Preis.“Beide Seiten müssten von einer Einigung profitieren können.
Die Chancen, dass es doch noch zu einem Deal kommt, sollen in den letzten Tagen gestiegen sein.
Bernd Lange (SPD), Chef des Handelsausschusses im Europa-Parlament, schätzt die Chance, dass es doch noch zu einer Einigung in letzter Minute kommen kann, auf 40 Prozent. Beide Seiten müssten dafür ab Montag nonstop verhandeln, die erste Woche in London, die zweite in Brüssel. David McAllister (CDU), Chef des Auswärtigen Ausschusses, macht deutlich, wie hoch der Zeitdruck ist: „Ende Oktober müssen die fertigen Gesetzestexte da sein, andernfalls reicht die Zeit für das Parlament nicht mehr, in der letzten Sitzungswoche vor der Weihnachtspause noch grünes Licht zu geben.“
Die EU bietet Johnson ein umfassendes Freihandelsabkommen an. Damit behielten die britischen Unternehmen ohne Zölle auf Dienstleistungen und Güter den vollen Zugang zum europäischen Markt. Allerdings stellt Brüssel London Bedingungen: Es müssten die gleichen Spielregeln auf beiden Seiten gelten, etwa bei Subventionen, Arbeitnehmerrechten, Steuern und Umweltauflagen. Außerdem müsse klar sein, dass in Streitfällen eine Entscheidung vor dem höchsten europäischen Gericht, dem Europäischen Gerichtshof (EuGH), fällt. Zudem müssen EU-Fischer weiterhin einen Zugang zu den britischen Gewässern haben. Die britische Seite ist nicht bereit, die Datenschutzgrundverordnung weiter als Basis anzuerkennen. Sie hätte gern den vollen Marktzugang bei Finanzdienstleistungen, will aber die Dienstleister unter britische Aufsicht stellen, was Brüssel strikt ablehnt.
Am ersten Gipfeltag beim Abendessen stand zudem der Klimaschutz auf der Tagesordnung. Beschlüsse sollten nicht gefasst werden. Die Chefs wollten vielmehr eine Orientierungsdebatte führen und sich dann beim nächsten regulären Gipfel im Dezember festlegen. Merkel wirbt darum, „dass die EU-Mitgliedstaaten
das Ziel von 55 Prozent weniger Emissionen bis 2030 unterstützen“. Das Europa-Parlament hat sich gerade für 60 Prozent ausgesprochen. Nun müssen sich die Mitgliedstaaten als Co-Gesetzgeber positionieren und danach mit dem Parlament einigen. Elf von 27 Mitgliedstaaten haben sich bereits für 55 Prozent ausgesprochen, zusätzlich warb auch Merkel jetzt dafür.
Dabei schauen viele auf Polen und seinen Regierungschef Mateusz Morawiecki. Polen hatte vergangenes Jahr als einziges Mitgliedsland nicht dafür gestimmt, für die EU Klimaneutralität im Jahr 2050 anzustreben. Und Polen könnte auch die Zielmarke von 55 Prozent für das Jahr 2030 blockieren. Umso mehr dürften Merkel und Co. bedauern, dass Morawiecki diesmal nicht persönlich anreist, sondern vom Videoschirm das Geschehen verfolgen will.
Allerdings ist schon jetzt klar, dass nicht jedes Mitgliedsland 2030 die 55 Prozent erreichen muss. Laut Entwurf des Gipfeldokuments soll es bei der Teilung der Lasten zwischen den Mitgliedstaaten bleiben.