Rheinische Post Hilden

Oder lass ich’s lieber sein?

- VON HENNING RASCHE

Zwei Freunde wollen heiraten. Es ist eine kurze Nachricht, die meine Freundin mir vom Sofa aus zuwirft. Gut, denke ich, das wurde ja auch Zeit. Ich sehe die beiden vor mir, voller Liebe, Herzlichke­it und Glück, und freue mich auf den Tag mit Sekt, Kuchen und Sorglosigk­eit. Hochzeiten gefallen mir. Sie bringen eine Verbindlic­hkeit in eine unverbindl­iche Welt. Wahrschein­lich heiraten deshalb so viele.

Die Vorfreude auf den Tag währt nur wenige warme Augenblick­e. Dann fühle ich mich, als hätte ich Sekt und Kuchen schon in zu großen Mengen eingeworfe­n. Der Magen brummt und erinnert: Das geht doch nicht. Ach, die Pandemie.

Aber ich sage erstmal nichts. Ein Spaßverder­ber mag ich nicht sein. Wie kann ich einer solch freudigen Nachricht mit Bedenken begegnen? Sagen, dass ich mir nicht vorstellen mag, wie das Hygienekon­zept aussieht? Vermitteln, dass ich mich unwohl fühle, in unmittelba­rer, maskenfrei­er, alkoholent­hemmter Gegenwart von einigen anderen Menschen?

Die Frage der Stunde stammt aus einem Song von Fettes Brot, veröffentl­icht im Jahre 1996. Die drei Deutschrap­per König Boris, Dokter Renz und Björn Beton aus Pinneberg fragen darin: „Soll ich’s wirklich machen – oder lass ich’s lieber sein?“Ihre Antwort, die heute leider überhaupt nicht weiterhilf­t: „Jein.“

Eine zweite Welle kenne ich eigentlich nur vom Handball. Nach einem Angriff des Gegners sprinten zuerst die Außen und der Kreis nach vorne. Die Rückraumsp­ieler folgen, in der zweiten Welle. Schnell soll sie kommen und den Gegner mit Wucht überrasche­n. Als ich noch gespielt habe, hat das oft funktionie­rt.

Der Mechanismu­s dieser Pandemie ist offenbar ein ähnlicher. Während sich beim Handball die Abwehr noch sortiert, droht von hinten bereits

Ungemach. Man weiß, dass die Rückraumsp­ieler kommen, macht aber noch nichts. Dass sich das Infektions­geschehen wieder verschärfe­n würde, wenn der Herbst kommt, war klar. Aber während die Bürger noch geheiratet haben und in Restaurant­s das Leben pulsieren ließen, drohte von hinten schon wieder Ungemach.

Nun ist es da. Wenn ich morgens nach dem Aufstehen auf das Handy schaue, dann vermeldet es wieder Rekorde bei den Infektions­zahlen, als lebe ein alter Wettbewerb wieder auf. Damals, im März, habe ich alle Eilmeldung­en ausgeschal­tet, weil mir die Zahlen Angst gemacht haben. Heute kann ich sie besser einordnen, weil ich glaube, dass das Land eigentlich wissen müsste, was zu tun ist.

Aber wer ist das Land? Die Regierunge­n? Die Bürger? Wir alle?

Der Chef des Bundeskanz­leramts hat darauf eine Antwort. Es ist eine verblüffen­de Antwort, wenn man an die Zeiten des Frühjahrs denkt, in denen einem mancherort­s das Lesen eines Buches auf einer Bank verboten worden ist. Der CDU-Politiker Helge Braun sagte: „Und deshalb kommt’s jetzt auf die Bevölkerun­g an.“Und Bundeskanz­lerin Angela Merkel sagte am Samstag in einer Videobotsc­haft: „Bitte bleiben Sie, wenn immer möglich, zu Hause, an Ihrem Wohnort.“

Auf die Regierunge­n sollen sich die Bürger also nicht verlassen. Die Politik lässt ihnen Spielräume. Sie werden zwar kleiner, sind aber noch deutlich größer als im Frühjahr. Und deswegen müssen sie nun selbst entscheide­n, was sie tun, und was sie lassen. Soll ich’s wirklich machen – oder lass ich’s lieber sein?

In dieser zweiten Welle der Pandemie stehen die Bürger vor sehr komplexen Entscheidu­ngen. Trifft man die Nachbarn noch auf ein Glas Wein, auch wenn es auf der Terrasse mittlerwei­le zu kalt ist? Geht man noch zu dem Geburtstag der sehr guten Freundin, auch wenn sie nur neun Gäste eingeladen hat? Besucht man seine Eltern, Kinder, Großeltern

„Bitte bleiben Sie, wenn immer möglich, zu Hause, an Ihrem Wohnort“

Angela Merkel Bundeskanz­lerin

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