Oder lass ich’s lieber sein?
Zwei Freunde wollen heiraten. Es ist eine kurze Nachricht, die meine Freundin mir vom Sofa aus zuwirft. Gut, denke ich, das wurde ja auch Zeit. Ich sehe die beiden vor mir, voller Liebe, Herzlichkeit und Glück, und freue mich auf den Tag mit Sekt, Kuchen und Sorglosigkeit. Hochzeiten gefallen mir. Sie bringen eine Verbindlichkeit in eine unverbindliche Welt. Wahrscheinlich heiraten deshalb so viele.
Die Vorfreude auf den Tag währt nur wenige warme Augenblicke. Dann fühle ich mich, als hätte ich Sekt und Kuchen schon in zu großen Mengen eingeworfen. Der Magen brummt und erinnert: Das geht doch nicht. Ach, die Pandemie.
Aber ich sage erstmal nichts. Ein Spaßverderber mag ich nicht sein. Wie kann ich einer solch freudigen Nachricht mit Bedenken begegnen? Sagen, dass ich mir nicht vorstellen mag, wie das Hygienekonzept aussieht? Vermitteln, dass ich mich unwohl fühle, in unmittelbarer, maskenfreier, alkoholenthemmter Gegenwart von einigen anderen Menschen?
Die Frage der Stunde stammt aus einem Song von Fettes Brot, veröffentlicht im Jahre 1996. Die drei Deutschrapper König Boris, Dokter Renz und Björn Beton aus Pinneberg fragen darin: „Soll ich’s wirklich machen – oder lass ich’s lieber sein?“Ihre Antwort, die heute leider überhaupt nicht weiterhilft: „Jein.“
Eine zweite Welle kenne ich eigentlich nur vom Handball. Nach einem Angriff des Gegners sprinten zuerst die Außen und der Kreis nach vorne. Die Rückraumspieler folgen, in der zweiten Welle. Schnell soll sie kommen und den Gegner mit Wucht überraschen. Als ich noch gespielt habe, hat das oft funktioniert.
Der Mechanismus dieser Pandemie ist offenbar ein ähnlicher. Während sich beim Handball die Abwehr noch sortiert, droht von hinten bereits
Ungemach. Man weiß, dass die Rückraumspieler kommen, macht aber noch nichts. Dass sich das Infektionsgeschehen wieder verschärfen würde, wenn der Herbst kommt, war klar. Aber während die Bürger noch geheiratet haben und in Restaurants das Leben pulsieren ließen, drohte von hinten schon wieder Ungemach.
Nun ist es da. Wenn ich morgens nach dem Aufstehen auf das Handy schaue, dann vermeldet es wieder Rekorde bei den Infektionszahlen, als lebe ein alter Wettbewerb wieder auf. Damals, im März, habe ich alle Eilmeldungen ausgeschaltet, weil mir die Zahlen Angst gemacht haben. Heute kann ich sie besser einordnen, weil ich glaube, dass das Land eigentlich wissen müsste, was zu tun ist.
Aber wer ist das Land? Die Regierungen? Die Bürger? Wir alle?
Der Chef des Bundeskanzleramts hat darauf eine Antwort. Es ist eine verblüffende Antwort, wenn man an die Zeiten des Frühjahrs denkt, in denen einem mancherorts das Lesen eines Buches auf einer Bank verboten worden ist. Der CDU-Politiker Helge Braun sagte: „Und deshalb kommt’s jetzt auf die Bevölkerung an.“Und Bundeskanzlerin Angela Merkel sagte am Samstag in einer Videobotschaft: „Bitte bleiben Sie, wenn immer möglich, zu Hause, an Ihrem Wohnort.“
Auf die Regierungen sollen sich die Bürger also nicht verlassen. Die Politik lässt ihnen Spielräume. Sie werden zwar kleiner, sind aber noch deutlich größer als im Frühjahr. Und deswegen müssen sie nun selbst entscheiden, was sie tun, und was sie lassen. Soll ich’s wirklich machen – oder lass ich’s lieber sein?
In dieser zweiten Welle der Pandemie stehen die Bürger vor sehr komplexen Entscheidungen. Trifft man die Nachbarn noch auf ein Glas Wein, auch wenn es auf der Terrasse mittlerweile zu kalt ist? Geht man noch zu dem Geburtstag der sehr guten Freundin, auch wenn sie nur neun Gäste eingeladen hat? Besucht man seine Eltern, Kinder, Großeltern
„Bitte bleiben Sie, wenn immer möglich, zu Hause, an Ihrem Wohnort“
Angela Merkel Bundeskanzlerin