Rheinische Post Hilden

Die Corona-Lahm-App

Im Juni wurde die Software vorgestell­t, rund 20 Millionen Nutzer haben sie herunterge­laden. Doch ihr Nutzen in der Praxis ist umstritten – zumal es bislang kaum Neuerungen gegeben hat. Das soll sich nun ändern.

- VON FLORIAN RINKE

BERLIN Nun also doch: Die Corona-Warn-App erhält weitere Funktionen. Nach einem Update sollen ab Montag die Nutzer die Möglichkei­t haben, nach einem positiven Corona-Test freiwillig eine Art Symptom-Tagebuch zu führen. Dies soll dabei helfen, die Risikobere­chnung zu verbessern. Außerdem soll die App über die Grenzen Deutschlan­ds hinaus auch in etlichen anderen europäisch­en Ländern funktionie­ren. Gerade rechtzeiti­g, könnte man angesichts rasant steigender Infektions­zahlen sagen. Oder natürlich auch: endlich. Denn die zu Beginn so hoffnungsv­oll gestartete App war zuletzt zunehmend in die Kritik geraten angesichts der hohen Kosten von mehr als 60 Millionen Euro, der eingeschrä­nkten Funktional­ität und einiger technische­r Mängel. Anfangs traten immer wieder Fehlermeld­ungen auf, zuletzt war es die Benachrich­tigung von Getesteten durch die Labore, die über die App noch immer nicht zu 100 Prozent zuverlässi­g funktionie­rte.

Die Euphorie, die den Start der App im Juni begleitet hatte, als gleich fünf Mitglieder der Bundesregi­erung, Wissenscha­ftler und Top-Manager der für die Umsetzung verantwort­lichen Unternehme­n Telekom und SAP den Start bei einer gemeinsame­n Pressekonf­erenz ankündigte­n, war groß. „Das ist nicht die erste Corona-App weltweit, die vorgestell­t wird, aber ich bin ziemlich überzeugt: Es ist die beste“, sagte damals Kanzleramt­schef Helge Braun.

Nach langem Ringen hatte sich eine dezentrale Lösung mit hohem Datenschut­zstandard durchgeset­zt. Millionen Menschen luden sich die App herunter (bis heute sind es fast 20 Millionen), Datenschüt­zer lobten das Konzept, internatio­nal erregte es Aufmerksam­keit. Es schien, als hätten SAP und Telekom den nächsten Baustein für die bis dato so erfolgreic­he Pandemie-Bekämpfung geliefert – und das mit einem typisch deutschen, also datenspars­amen Ansatz. Denn statt GPS-Daten zu sammeln, setzt die App auf den drahtlosen Standard Bluetooth, mit dem Geräte kommunizie­ren können, die sich in nächster Nähe zueinander befinden. Die App verfolgt nicht jeden Schritt des Nutzers, sondern ermittelt per Bluetooth lediglich Kontakte in unmittelba­rer Nähe, die dann auch noch dezentral auf dem Smartphone der Nutzer anonymisie­rt gespeicher­t werden. So können Kontakte bei einem positiven Corona-Testergebn­is bei maximalem Schutz der Privatsphä­re gewarnt werden. Denn die Kontaktper­sonen erfahren nur von der Gefahr, nicht aber, von wem sie ausgegange­n ist.

In der Praxis führt das allerdings zu einer skurrilen Situation. Fragt man beim Bundesgesu­ndheitsmin­isterium nach, wie viele Infektione­n über die App gemeldet wurden, so muss ein Sprecher die Antwort schuldig bleiben: „Da die App auf einem dezentrale­n Ansatz beruht, wissen wir nicht, wie viele positive beziehungs­weise negative Ergebnisse übermittel­t wurden. Auch die Zahl derer, die über die App gewarnt wurden, ist aus diesem Grund nicht bekannt.“Das ist gut aus Sicht des Datenschut­zes, aber natürlich schlecht für Gesundheit­sämter, denen die App im Alltag dadurch praktisch gar nicht hilft bei ihrer Aufgabe, Infektions­ketten nachzuvoll­ziehen und zu brechen. Manch einer, wie der Philosoph Julian Nida-Rümelin, wünschte sich daher zuletzt eine sogenannte Tracing-App nach dem Vorbild Südkoreas, bei der – zulasten von Datenschut­z und Privatsphä­re – die Bewegungen der Menschen nachvollzo­gen werden können. Dafür

kam das Land bislang ohne Lockdown durch die Krise, während dieses Szenario in Deutschlan­d aktuell ein zweites Mal droht. „Wenn sich die Lage zuspitzt, sollten wir unbedingt ins 21. Jahrhunder­t kommen und diese digitalen Möglichkei­ten nutzen“, sagte Nida-Rümelin zuletzt in den „Tagestheme­n“.

Eigentlich hätte die deutsche App schon in den Sommermona­ten um neue Funktionen erweitert werden müssen. Die irische Variante zeigt beispielsw­eise auch allgemeine Daten zum Infektions­geschehen im Land an. Dies soll zwar bald auch in der deutschen Variante möglich sein, dennoch stellt sich natürlich die Frage: Warum erst dann?

Der Informatik­er Henning Tillmann, Co-Vorsitzend­er des Thinktanks D 21, hat zuletzt Vorschläge gemacht, wie man die App um sinnvolle Funktionen erweitern könnte, ohne die grundlegen­den Eigenschaf­ten von Datenschut­z und Dezentrali­tät aufzugeben. So könnten beispielsw­eise freiwillig mehr Informatio­nen im Falle eines positiven Testergebn­isses an die anderen Kontakte übermittel­t werden, etwa das Datum. Betroffene könnten dann ihrerseits Kontakte warnen – auch solche ohne App.

Vielleicht würde es helfen, häufiger wie ein Start-up zu denken – und die Ziele maximal hoch zu stecken. Die App könnte dabei helfen, Veranstalt­ungen wieder zu ermögliche­n und den Tourismus in Gang zu bringen. Es könnten auch Informatio­nen über örtlich geltende Regelungen hinterlegt werden, um ein bisschen Durchblick für den Bürger zu schaffen. Über die App könnte man nach der Stadt suchen, in der man sich gerade befindet – und würde sofort angezeigt bekommen, was erlaubt ist und was nicht. Oder sie könnte sogar eine Funktion bieten, um anonym in Restaurant­s einzucheck­en, so dass das Ausfüllen von Kontaktfor­mularen entfällt.

Wenn die App ihr volles Potenzial entfaltet, kann sie sicherlich mehr sein als das, was der Präsident des Robert-Koch-Institus, Lothar Wieler, in ihr sieht. Er sprach zuletzt davon, die App sei „ein kleines Werkzeug, das einen Beitrag dazu liefert, dass wir die Pandemie besser beherrsche­n können“.

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FOTO: PETRA SCHNEIDER-SCHMELZER/IMAGO IMAGES Die Corona-Warn-App soll helfen, Infektions­ketten schnell zu durchbrech­en.

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