Kalkar liefert Wasserstand der Radikalität
Im Konflikt zwischen Gemäßigten und Radikalen droht der AfD die Spaltung.
BERLIN Wenige Tage vor ihrem in Kalkar geplanten Bundesparteitag hat die AfD mit ihrer Klage gegen die Maskenpflicht für die 600 Delegierten ein Thema gefunden, hinter dem sie sich mehrheitlich versammeln kann. Kreuz und quer durch die Republik suchen die AfD-Funktionäre den örtlichen Schulterschluss mit Leugnern der Corona-Gefahren. Nachdem der Parteispitze zu Pandemiebeginn die Einschränkungen nicht schnell genug gehen konnten, hat sie sehr bald ihre Meinung geändert und sich als Heimstatt für Corona-Rebellen empfohlen. Doch das täuscht nicht darüber hinweg, dass ihr nach wie vor die Spaltung droht.
Denn für Kalkar sind die Messer längst gewetzt. Es geht um die Nachbesetzung des Vorstandspostens, der nach dem Rauswurf von Andreas Kalbitz neu zu besetzen ist. Er war neben Rechtsaußen Björn Höcke einer der Frontleute des „Flügels“, der wegen der Beobachtung durch den Verfassungsschutz seine formale Auflösung beschloss, auch wenn es ihn streng genommen als klar definierte Gliederung der Partei nie gegeben hat. Höcke warf der Mehrheit des Bundesvorstands seinerzeit „Verrat“vor – und kommt mit frischer Wiederwahl als Thüringen-Chef zum Delegiertentreffen. Auch die Brandenburger AfD hielt bei der Nachwahl für Kalbitz am radikalen Kurs fest.
Für den einstigen AfD-Mitgründer Hans-Olaf Henkel steht inzwischen fest: „Die Vernünftigen und Anständigen haben die AfD verlassen.“Und doch hält sich der Konflikt zwischen nationalradikalen und gemäßigten Kräften. Dem Einzug der AfD in sämtliche Landesparlamente folgte das permanente Schrumpfen vieler Fraktionen. Nach dem Muster Ausschluss oder Austritt sind etwa in Baden-Württemberg aus 23 AfD-Abgeordneten 15 geworden, und die
Fraktionen in Schleswig-Holstein und Niedersachsen hat es gleich ganz zerlegt. Es gibt sie nicht mehr.
Die Stimmungsmache gegen Flüchtlinge und andere Ausländer hatte die AfD getragen. Dahinter konnte sie zukleistern, dass sie ausgerechnet für die größte Gruppe ihrer Anhänger, Männer im oder vor dem Rentenalter, kein Konzept anzubieten hatte. Bei der Sozialpolitik ist sie auch sieben Jahre nach der Gründung immer noch „blank“. Im Herbst 2018 nahm sie sich vor, diesen Zustand bei einem Sozialparteitag ein Jahr später endlich zu beenden. Doch wenige Wochen vorher sagte sie das Treffen wieder ab, weil sie mitten im Landtagswahlkampf das Bild völliger Zerstrittenheit vermeiden wollte und nicht sah, wie sie sich hier zusammenraufen soll. Nun soll es in Kalkar gelingen.
Doch der wirtschaftsliberale Ansatz von Parteichef Jörg Meuthen ist kaum vereinbar mit dem sozialpatriotischen von Höcke. Der eine will eine steuerfinanzierte Mindestrente, die durch private Vorsorge aufgestockt werden kann, der andere setzt auf umlagefinanzierte Zuschüsse nur für Deutsche. Es ist sein Versuch, national und sozial zusammen zu bringen, und sich dabei auch Wählern
der Linken anzuempfehlen. Der Parteitag kann damit sowohl personell als auch inhaltlich den aktuellen Wasserstand der Radikalität in der AfD anzeigen. Möglicherweise hat der Verfassungsschutz auch aus diesem Grund entschieden, erst im Dezember mitzuteilen, ob er die Partei als Ganzes zum extremistischen Beobachtungsobjekt erheben will.
Das Alleinstellungsmerkmal der Corona-Leugnung ist bislang nicht geeignet, die Umfragewerte zu beflügeln. Nach einer aktuellen Erhebung im Auftrag der Deutschen Bank beläuft sich der Anteil derjenigen, die die Corona-Krise leugnen und alles für „überzogen“halten, auf sechs Prozent. Die Spanne reicht von drei Prozent in NRW bis 14 Prozent in Sachsen. Nichts also, was der AfD Zulauf bringen könnte. Sie hat zudem gelernt, dass ihre Werte immer dann absacken, wenn niemand über sie spricht und die anderen Parteien die Probleme lösen.
Insofern hat ihr die Provokation im Zusammenhang mit dem Infektionsschutzgesetz im Bundestag enorm genutzt. Die anderen Fraktionen taten ihr sogar den Gefallen, eine Stunde lang nur über sie zu debattieren. Die Debatte über ein AfD-Verbot hilft ihr ebenfalls.