Das lange Leiden
Eine Corona-Studie, wonach bei manchen Patienten der Intelligenzquotient sinkt, ist zwar mit Skepsis zu betrachten. Trotzdem trägt ein Teil der Infizierten gravierende Langzeitfolgen davon.
LONDON Tim Spector ist Rheumatologe und Professor für Epidemiologie am ehrwürdigen King‘s College in London. Momentan beschäftigt sich der Wissenschaftler vor allem mit Spätfolgen einer Infektion mit dem Sars-CoV-2-Virus. Die Verläufe von mehr als 200.000 Corona-Fällen haben er und sein Team mittlerweile untersucht, und zwischendurch entfuhr ihm dieser Satz: „Ich kenne mich mit merkwürdigen Krankheiten aus. Aber Covid-19 ist die merkwürdigste Krankheit, die ich kenne.“Auf Nachfrage seines erstaunten Gegenübers präzisierte er den Satz: Er halte Covid-19 für „völlig unvorhersehbar“.
Die Analyse ergab: Knapp zehn Prozent der von ihm gesichteten Fälle hatten auch noch einen Monat nach dem Krankheitsausbruch regelmäßig unerklärliche Symptome. Mitte Oktober veröffentlichte das Britische Institut für Gesundheitsforschung einen Standortbericht zum Thema „Long Covid“; dort heißt es: „Es wird immer deutlicher, dass eine Covid-19-Infektion für manche Leute kein abschließendes Ereignis ist, sondern den Beginn anhaltender und beeinträchtigender Symptome markiert.“
In Deutschland gibt es mittlerweile mehrere Post-Covid-Ambulanzen, die Patienten mit Spätfolgen behandeln, etwa am Universitätsklinikum Jena. „Wir glauben, dass ungefähr drei Prozent der Patienten nach überstandener Erkrankung langfristig Symptome haben“, sagt Philipp Reuken, Oberarzt für Infektiologie. „Vor allem berichten die Patienten über Müdigkeit, Abgeschlagenheit und Konzentrationsschwäche, zudem über deutliche Luftnot schon bei leichter Belastung.“Die Mediziner berichten, dass diese „Long Covid“-Muster bei Menschen jeden Alters auftreten können. Sie gehen zudem nicht davon aus, dass Gruppen mit einem geringen Risiko (niedrigeres Alter, ohne Vorerkrankungen und Risikoprofil) bei einer akuten Infektion auch ein geringes Risiko für eine anhaltende Covid-19-Krankheit haben.
Die Symptome sind unterschiedlich und kehren nicht selten kreisoder wellenförmig zurück. Das betrifft die hospitalisierten und die nicht-hospitalisierten Patienten. Sie befallen die Atemwege, das Gehirn, das Herz-Kreislauf-System und das Herz, die Nieren, den Darm, die Leber und sogar die Haut. Das Britische Institut für Gesundheitsforschung schreibt: „Diese Symptome können in Intensität und Dauer variieren und sind nicht unbedingt linear oder sequenziell vorhanden.“
Es liegt auf der Hand, dass manche Ärzte in eine Art diagnostischer Unsicherheit geraten, wenn sich bei ihren Patienten drei Monate nach einem milden Infektionsverlauf plötzlich unerklärliche Symptome melden, die etwa an das chronische Erschöpfungssyndrom (Chronic Fatigue Syndrome) denken lassen. Schäden an Organen sind etwa durch bildgebende Verfahren oder andere Tests in gewissem Rahmen nachweisbar, bei Müdigkeit und Konzentrationsstörungen ist das anders.
Für Aufmerksamkeit, ja Aufregung sorgte dieser Tage eine Meldung, die aus England um die Welt ging. Wie das „Deutsche Ärzteblatt“berichtet, erzielten Patienten, die sich von einer Infektion mit Sars-CoV-2 erholt hatten, in einem „Intelligenztest“, den der britische Sender BBC 2 Horizon derzeit im Internet durchführt, schlechtere Ergebnisse als der Rest der Teilnehmer. Der Rückstand entspreche nach den im Wissenschaftsportal Medrxiv veröffentlichten Ergebnissen etwa 8,5 IQ-Punkten in einem Standard-Intelligenztest oder einer frühzeitigen Alterung um zehn Jahre.
Diese Aussagen darf man bezweifeln, sie wurden auch nicht auf wissenschaftlich gesichertem Weg gewonnen. Wer eine schwere Infektion erleidet, womöglich mit Intubation und maschineller Beatmung, ist hinterher nicht selten „durch den Wind“. Auch bei Covid-19-Patienten kann es nach der Entwöhnung von der künstlichen Beatmung zu Delir-ähnlichen Zustanden, also dem sogenannten Durchgangssyndrom, kommen.
Nicht gefragt wurden die Teilnehmer, wie lange die Krankheit zurücklag, und in keinem Fall war ein Vorher-nachher-Vergleich gemacht worden. Man wusste also nicht, ob die Patienten nicht schon vorher gewisse mentale Probleme hatten; die aber sind in gewissen Altersgruppen bei entsprechenden Vorerkrankungen nicht unüblich. Schließlich: Wenn ein Test zur Konzentration zwingt, die der Proband aber akut nicht aufbringen kann, fällt das Ergebnis halt schlechter aus. Mit mangelnder Intelligenz hat das aber nichts zu tun.
Gleichwohl darf man kognitive Beeinträchtigungen nicht ausschließen, wenn man von Spätfolgen bei Covid-19 spricht. Sie müssen allerdings statistisch genauer erfasst werden, wenn sie in Studien einfließen und zum Gegenstand öffentlicher Erwägungen werden sollen. Sonst erzeugen sie nur Panik, die kein Mensch braucht, vor allem nicht jetzt. Die Lage ist bereits ernst genug.