„Wir brauchen eine einheitliche Maskenpflicht“
Der Virologe spricht über verpasste Gelegenheiten in der Pandemie, vorschnelle Lockerungen, Corona-Leugner und Hybrid-Unterricht.
Es gibt in der Mythologie den Begriff des Kairos, des günstigen Moments, den man nicht verpassen sollte. Hat Deutschland ihn in der Pandemie mehrfach verpasst? KEKULÉ So ist es. Allerdings haben einige Bundesländer und vor allem die Kanzlerin und der Kanzleramtsminister schon sehr genau verstanden, was jetzt zu tun ist. Nach meiner Beurteilung sollte man die weiterführenden Schulen eine Woche vor Weihnachten zumachen und schon jetzt in den Hybrid-Unterricht gehen. Das wird nicht überall funktionieren, aber wo es geht, sollte man es machen. Solche Dinge muss man pragmatisch regeln. Das sollte kein Kulturministerium mit Blick auf die Schulpflicht bremsen. Diese Entscheidung hätten wir schon vor zehn Tagen gebraucht.
Wirkt der derzeitige Lockdown aus Ihrer Sicht nicht?
KEKULÉ Doch, aber er ist viel zu schwach. Das Ergebnis ist: Jetzt brennt das Haus, und fast ist es schon zu spät, um die Weihnachtszeit ohne massiven Lockdown zu ermöglichen.
Und was haben wir im Frühjahr versäumt?
KEKULÉ Da hätten wir die Grenzen schließen und alle testen sollen, die auffällige Symptome hatten. Manches wurde auch viel zu spät auf die Schiene gebracht, bis hin zu den aus meiner Sicht sehr wichtigen Antigen-Schnelltests, von denen jetzt auch der Bundesgesundheitsminister sagt, dass sie vielleicht doch sinnvoll sind.
Was brauchen wir jetzt noch? KEKULÉ Zum Beispiel unbedingt eine einheitliche Maskenpflicht. Wenn Sie in Sachsen-Anhalt ins Taxi steigen, hat der Taxifahrer keine Maske an. Wenn er in Bayern keine trägt, zahlt er 50 Euro Bußgeld. So geht das auf Dauer nicht gut. Es kann auch nicht sein, dass eine Region mit weniger Fällen den anderen Regionen sagt, die Pandemie ist jetzt euer Problem, aber nicht unseres. Regionen, die wenige Fälle haben und bei denen die Bewohner entspannt sind, die sind in Wirklichkeit besonders verletzlich.
Einige Länder überlegen, in Deutschland wieder Lockerungsmarken
KEKULÉ Signal, alle Gaststätten wieder zu öffnen. Aber man hätte sie beim zweiten Lockdown nicht vollständig schließen müssen. Man hätte die schwarzen Schafe direkter und nachhaltiger bestrafen müssen. Jetzt bestraft man so manches Restaurant oder Hotel dafür, dass es ein funktionierendes und intelligentes Hygienekonzept entwickelt hat, oft gemeinsam mit Gesundheits- oder Ordnungsämtern. Das sorgt sogar bei Befürwortern der Maßnahmen für Irritationen. Es hat auch wirtschaftlich zu große Folgen.
Gibt es Hinweise darauf, dass es in Restaurants, in denen die Mindestabstände eingehalten wurden und die Leute mit der Maske bis zum Platz gingen, Infektionen gab? KEKULÉ Nein, jedenfalls keine nennenswerten.
Es würde mich wundern, wenn das in Opernhäusern, Museen und Konzertsälen anders war.
KEKULÉ So ist es. Trotzdem müssen wir jetzt kollektiv noch ein bisschen durchhalten, damit wir die Zahl der Neuerkrankungen bis Weihnachten deutlich drücken. Deshalb müssen alle möglichen Infektionsorte erst mal geschlossen bleiben. In einem mittel- und langfristigen Szenario sollten sie aber unbedingt geöffnet bleiben. Einen Vorschlag habe ich in meinem Buch gemacht.
In welchem Bereich müsste man nach ihrer Ansicht noch nachschärfen?
KEKULÉ Etwa in Geschäften. Da gibt es immer noch den Fall, dass Verkäufer hinter der Acrylglasscheibe ohne Maske stehen, als wüssten die Leute nicht, was Superspreading-Ereignisse sind und dass sich Aerosole natürlich im ganzen Raum verbreiten können.
Wann kann man sich draußen anstecken?
KEKULÉ Wenn sich zwei Bayern am Marienplatz in München aus einem Meter Entfernung anjodeln, kann der eine den anderen natürlich infizieren. Dabei fliegen die Tröpfchen ballistisch von Gesicht zu Gesicht. Aber ein Superspreading mit vielen Infizierten bekommen Sie dabei nicht.
Das könnte aber bei einer Demo mit lauter brüllenden Wutbürgern passieren. Was denken Sie über Corona-Leugner?
KEKULÉ Mich beunruhigt, dass diese Bewegung immer mehr Anhänger bekommt. Es kann sein, dass wir in eine Zeit hineintreiben, in der Leute, die an „alternative Fakten“glauben, salonfähig werden. Sie werden immer selbstbewusster und gewinnen politischen Einfluss. Darüber müssen wir uns Sorgen machen.
Werden Sie sich impfen lassen, wenn es einen Impfstoff gibt? KEKULÉ Ich werde mir die Daten sehr genau anschauen und mich erst impfen lassen, wenn ich davon überzeugt bin, dass ein Vakzin absolut sicher ist. Ich lebe ja nun schon seit Februar so, dass ich eine Corona-Infektion möglichst konsequent vermeide, da kommt es auf die paar Monate auch nicht mehr an.
Wie ist Ihre Prognose zu 2021? KEKULÉ Wenn wir jetzt aktuell den Gürtel enger schnallen, brauchen wir danach ein mittelfristiges Konzept, das uns bis zum Impfstoff rettet. Dann stehen die Aussichten gut, dass wir im nächsten Herbst keine relevante Covid-Welle bekommen.
Ihr mittelfristiges Konzept, das Sie auch in Ihrem Buch vertreten, heißt „Smart“. Was bedeutet das?
KEKULÉ Die einzelnen Buchstaben stehen für: Schutz der Risikogruppen, Masken im Alltag, aerogene Übertragung vermeiden, reaktionsschnelle Nachverfolgung und Tests für jedermann. Aber das sind nur die Instrumente; entscheidend ist die Strategie dahinter, mit der wir bis zum Ende der Pandemie ohne weitere Lockdowns aufkommen können.