„Ich kann nicht mehr, es geht nicht mehr“
Exakt sieben Minuten dauert es in Köln, aus der Kirche auszutreten. Viele Gläubige haben lange mit sich gekämpft, wollen sich rechtfertigen, manchmal fließen Tränen. Beobachtungen im Oberlandesgericht, Zimmer 47.
KÖLN Wenn es an die Tür von Hannelore Zielers Dienstzimmer klopft, steht fast nie jemand davor, der sich die Entscheidung leichtgemacht hat. Die Justizamtsinspektorin ist im Kölner Amtsgericht für Kirchenaustritte zuständig und sitzt in einer Nebenstelle, in Zimmer 47 im Oberlandesgericht. Wer der Kirche den Rücken kehren will, muss dafür keine Gründe nennen. Aber viele wollen es. „Vor allem ältere Frauen, vielleicht 70 Jahre alt und sehr gläubig, sitzen dann hier und rechtfertigen sich“, sagt Zieler. „Dass sie der Kirche jetzt den Geldhahn zudrehen wollen, weil sie glauben, es sei das Einzige, was hilft.“Zieler sagt ihnen dann manchmal, dass sie kein schlechtes Gewissen haben müssen. Viel Zeit zum Reden bleibt ohnehin nicht, für jeden Termin sind exakt sieben Minuten angesetzt. Meistens steht der nächste schon draußen vor der Tür. Zurzeit kommen 50 Menschen jeden Tag. Bis Ende April sind alle Termine ausgebucht. Dabei hatte das Amtsgericht sie schon aufgestockt von 600 auf 1000 im Monat.
Maria Thissen wirkt angespannt. Sie hat an der Kasse am Eingang 30 Euro bezahlt, ihren Personalausweis hat sie dabei, für ihre Austrittserklärung aus der katholischen Kirche braucht es nur noch ihre Unterschrift. „Für mich haben die aktuellen Ereignisse den Ausschlag gegeben“, sagt sie. Rainer Maria Kardinal Woelki hat durch seinen Umgang mit dem Missbrauchsskandal im Erzbistum Köln eine große Vertrauenskrise ausgelöst. Menschen wie Thissen, die in einem sozialen Beruf arbeiten und der Kirche immer verbunden waren, sind zutiefst enttäuscht. „Der Umgang mit den Missbrauchsvorwürfen ist so gefühllos und kalt“, sagt die Kölnerin. Dann kommen ihr die Tränen. „Da wird Menschen Leid angetan, und da steht diese Institution so brachial dagegen, die doch eigentlich eintritt für Liebe, Verständnis und Miteinander.“Sie könne nicht fassen, dass die katholische Kirche mehr Interesse daran habe, die eigenen Eliten zu schützen, als sich um die Opfer zu kümmern und „mal deutlich ein Gefühl zuzulassen“. Bevor sie die Tür zu Zimmer 47 öffnet, sagt sie: „Ich kann es nicht mehr. Es geht nicht mehr.“
In den vergangenen fünf Jahren ist die Zahl der Kirchenaustritte in Nordrhein-Westfalen stetig angestiegen, wobei sie im vergangenen Jahr niedriger war als 2019 – vermutlich auch bedingt durch den Lockdown, wo es in den Amtsgerichten nur sehr eingeschränkten Publikumsverkehr gab. 2018 traten nach Angaben des Justizministeriums 88.510 Menschen aus den Kirchen aus, 2019 waren es 120.188. Und im vergangenen Jahr 89.694. Die Zahlen werden nicht nach Konfessionen aufgeschlüsselt. Über die Gründe für die hohe Zahl für 2019 lässt sich nur spekulieren. Der Missbrauchsskandal war auch da schon ein großes Thema, allerdings gab es keinen aktuellen Skandal wie etwa im Jahr 2013, als der Limburger Bischof Franz-Peter Tebartz-van Elst wegen Geldverschwendungsvorwürfen negative Schlagzeilen machte.
„Es gibt immer auch ein saisonales Gefälle“, sagt Maurits Steinebach, Sprecher des Kölner Amtsgerichts. Wenn das Gericht neue
Termine freischaltet, läuft es derzeit ab wie beim Kartenvorverkauf für eine angesagte Band: Innerhalb weniger Stunden sind alle weg: „Früher konnte man einfach so kommen, das geht jetzt nicht mehr.“Die Online-Terminvergabe wurde im Lockdown 2020 eingeführt, um überfüllte Flure zu vermeiden.
Die Skandale in der Kirche wirken bei ihren Mitgliedern lange nach. „Es ist nicht transparent, wo das Geld hinfließt, vielleicht hab ich auch goldene Badewannen mitfinanziert“, sagt Santina Schwenger. Auch die 30 Jahre alte Finanzbeamtin bricht mit der katholischen Kirche. „Ich muss keine Kirchensteuern zahlen, um an Gott glauben zu können“, sagt sie. Ihren Entschluss habe sie schon länger gefasst. „Aber die Corona-Krise kam dazwischen.“
Mit großen Schritten geht ein junger Mann auf Zimmer 47 zu. „Für mich ist das alles nicht mehr zeitgemäß“, sagt der 30-Jährige. „Die Kirche orientiert sich nicht an der Welt, nur an sich selbst.“Seinen Namen will er nicht nennen. „Bloß nicht. Wenn meine Oma liest, dass ich ausgetreten bin, kriegt sie einen Schock.“Auch Ute Aupake glaubt zwar, dass es jemanden gibt, „der auf uns aufpasst“, aber: „Ich kann die katholische Kirche nicht mehr ernst nehmen.“Deshalb tritt die 52-Jährige nun aus. „Als Frau habe ich dort doch sowieso nicht viel zu melden, das machen die Herren alles unter sich.“Auch wenn sie ihren Glauben immer behalten werde, sei jetzt Schluss. „Ich möchte in diesem Verein nicht mehr sein.“
Das Amtsgericht prüft wegen der großen Nachfrage, ob eine Aufstockung der Termine möglich ist.