Österreich warnt vor Reisen nach Tirol
Das Land lockert Corona-Maßnahmen, verschärft aber Grenzkontrollen. Eine Virologin hält ein „zweites Ischgl“für möglich.
WIEN Österreich hat Schulen, Geschäfte und Museen am Montag geöffnet – und schottet sich zugleich gegenüber den Nachbarländern weiter ab. Hauptgrund ist die Verbreitung der gefährlichen südafrikanischen Virusmutante B.1.351, die vor allem in Tirol und vereinzelt in anderen Bundesländern aufgetreten ist. Innenminister Karl Nehammer (ÖVP) gab verschärfte Grenzkontrollen bekannt; die Regierung Österreichs warnt vor nicht notwendigen Reisen nach Tirol.
Nach Einschätzung von Experten liegen 293 belegte Fälle der Mutation in dem Bundesland vor, die Zahl der „aktiven Fälle“wird auf mindestens 140 geschätzt. Bundeskanzler Sebastian Kurz fordert, Reisen nach Tirol „auf das unbedingt erforderliche Ausmaß zu verringern“. Gesundheitsminister Rudi Anschober ergänzt: „Wir überprüfen die Lage laufend – Zusatzmaßnahmen sind jederzeit möglich.“
Vor knapp einem Jahr war das Virus in der mit internationalen Gästen überlaufenen Ski-Arena Ischgl ausgebrochen und konnte sich in ganz Europa verbreiten. Ebenfalls in Tirol tauchte zur Jahreswende erstmals die britische Corona-Mutante B.1.1.7 auf. Als Urheber waren Briten auf einem Skilehrerkurs ausgemacht worden. Auch das Südafrika-Virus wurde österreichweit erstmals in Tirol festgestellt.
Und wieder sehen sich Tiroler Landesregierung und Landesbehörden dem Vorwurf des Versagens ausgesetzt. Bezeichnenderweise haben das Auftreten der Südafrika-Mutante nicht offizielle Stellen bekannt gegeben: Medien haben sie aufgedeckt. Weitere Anfragen werden von zuständigen Behörden mit Hinweis auf den Datenschutz abgeschmettert. Beschwichtigend wird erklärt, dass es in Tirol „bis dato zu keiner exponentiellen Ausbreitung der Mutationsfälle gekommen“sei.
Die Behörden verweisen stolz darauf, dass die Sieben-Tage-Inzidenz in Tirol mit 105 Infizierten pro 100.000 Einwohner sogar unter dem Bundesdurchschnitt liege. Dass einzelne Bezirke wie Schwaz oder Innsbruck-Land gefährliche Virenschleudern sind, die die dreifache Inzidenzzahl aufweisen, wird wiederum unterschlagen.
Mit dem Reizwort „zweites Ischgl“traf die Virologin Dorothee von Laer bei verantwortlichen Stellen den empfindlichsten Nerv. Entsprechend stößt ihre Forderung, ganz Tirol
müsse abgeschottet werden, auf heftige Ablehnung. Landeshauptmann Günther Platter, ein Parteifreund von Bundeskanzler Kurz, hatte dies ausgeschlossen, noch bevor das zuständige Gesundheitsministerium in Wien darüber eine Entscheidung gefällt hatte: „Das gibt die Datenlage nicht her“, so Platter, der unter massivem Druck der Wirtschaft steht. Christoph Walser, Präsident der Tiroler Wirtschaftskammer, drohte offen: Sollte Wien eine entsprechende Verordnung verfügen, „werden sie uns am Montag richtig kennenlernen“. Und der nicht minder wortgewaltige Arbeiterkammerpräsident Erwin Zangerl scheute auch einen drastischen Vergleich nicht: „Tirol wird wie eine Lepra-Insel behandelt“, das lasse man sich nicht gefallen.
Die anerkannte Virologin von Laer ging zunächst in einem Interview
zum Gegenangriff über: „Das Land Tirol mauert und verschleiert wieder“, wieder würden Informationen zurückgehalten oder kleingeredet, anstatt die Gefahr von Mutanten ernst zu nehmen. „Die Frage ist, ob es nicht schon zu spät ist“, warnte sie. Doch massive Anfeindungen seitens offizieller Stellen – vor allem wird ihre wissenschaftliche Kompetenz angezweifelt – haben die Virologin veranlasst, weitere Journalistenfragen abzulehnen, sie widerruft aber ihre Äußerungen nicht.
Mittlerweile kracht es zwischen Wien und Innsbruck: Die turbulent verlaufenden Verhandlungen wurden in der Nacht auf Montag ergebnislos abgebrochen. Zunächst war unklar, ob die Gespräche überhaupt fortgesetzt werden. Landeshauptmann Platter legte stattessen einen Neun-Punkte-Plan vor, der allerdings nicht mehr enthält als Standardprogramm (mehr Tests, Kontaktverfolgung, Reisebeschränkungen). Dabei erklären Experten Tirol bereits zu einer der Hochburgen der südafrikanischen Mutante in Europa und fordern rasche und konkrete Maßnahmen.
Grund für die stockenden Verhandlungen ist die verworrene Datenlage – Bund und Land hantierten mit völlig unterschiedlichen Zahlen und Messungen, hieß es. So rechnet Gesundheitsminister Rudolf Anschober mit weiteren Mutanten-Clustern in Tirol, während Landeshauptmann Platter versichert, der habe die Lage in Tirol „im Griff“. Die Bundesregierung verhängte gestern trotzdem die Reisewarnung, allerdings ohne Sanktionen. Die Österreicher sollen Tirol lediglich freiwillig meiden.
Kanzler Sebastian Kurz, der sich bislang gerne als Krisenmanager präsentierte, war in dem Konflikt mit Tirol tagelang auf Tauchstation. Man wolle den Tiroler Parteifreunden nicht zu nahetreten, sagten Beobachter zu Kurz’ Motivation, nach dem Motto: Solle sich der grüne Gesundheitsminister doch mit dem Problem abrackern. Stattdessen sprach sich der Bundeskanzler für die Zulassung des russischen Impfstoffs Sputnik V in Österreich aus. Dabei ist in dieser Frage allein die Europäische Kommission zuständig. (mit dpa)