Kunstgeschichten aus dem Swinging London
Kunstbuch Der Kritiker Martin Gayford schreibt großartige Bücher. Wie wenigen anderen Autoren auf dem Feld der Bildenden Kunst gelingt es ihm, Kunstgeschichte tatsächlich in Geschichten zu erzählen. Seine Monografien über Lucian Freud und Vincent van Gogh sind berühmt, und in seinem nun auf Deutsch erschienenen Band „Britische Kunst“(Piet-Meyer-Verlag) widmet er sich der Kunstszene Londons in den Jahren zwischen 1945 und 1970. Er porträtiert David Hockney und Bridget Riley, Frank Auerbach und Francis Bacon. Der Leser erlebt eine Epoche, in der die Metropole zur Hauptstadt der Gegenwart wurde. Maler experimentierten mit einem alten Medium, und Gayford arbeitet heraus, warum sie glaubten, mit Farbe erreichen zu können, was mit Fotografie nicht gelungen wäre.
Philipp Holstein
Klassik Wer nach ihm im Lexikon sucht, findet erst mal die Stoffgruppe der gesättigten acyclischen Kohlenwasserstoffe, eine Fluggesellschaft oder einen türkischen Vornamen. Alkan, Alkan – war da sonst noch etwas? Das fragten sich auch Pariser Zeitgenossen in seinem Todesjahr 1888. Ein Nachruf in der Zeitschrift „Le Ménestrel“stellte makaber fest, durch die Todesnachricht wisse man überhaupt erst, dass es ihn noch gegeben habe.
Ja, Charles-Valentin Alkan (1813– 1888) galt den Zeitgenossen nicht als hellster Kronleuchter des 19. Jahrhunderts, dabei war er zweifellos ein Genie. Leider gab es einige Verhinderer, die ihm, dem bravourösen Pianisten und Komponisten, den Aufstieg neideten. Robert Schumann äußerte sich abfällig über ihn, Intrigen am Konservatorium machten seine Karriere zunichte. Dabei war Alkan als Pianist neben Franz Liszt und Sigismund Thalberg eine Kapazität, einer dieser Wahnsinnsakrobaten, die Damen in Ohnmacht fallen ließen. Leider besaß Alkan nur wenig dickes Fell, und als sein Freund Frédéric Chopin starb, verschwand er erst einmal von der Bildfläche. Ein sensibler Meister.
Jetzt ist beim Label Piano Classics eine sehr schöne Sammlung ausgewählter Klavierstücke erschienen, die Alkan nicht nur als Lieferanten für Monstervirtuosität, sondern auch als poetisches Hochtalent zeigen. Sein Gespür für Klangfarben ist exorbitant – Musik irgendwo zwischen Mendelssohn und Rachmaninow. Mark Viner, selbst ein allergrößter Meister
Der Klavierkomponist Charles-Valentin Alkan
des Klavierfachs, hat sich zwei Paraphrasen, einige Märsche und Etüden vorgenommen und exekutiert sie mit einer Brillanz und zugleich einer lyrischen Noblesse, die uns erneut fragen lässt, warum dieser Alkan so selten aufgeführt wird. Höhepunkt der prachtvollen CD ist sicher die als „Symphonie“ausgewiesene Auskoppelung von vier Etüden aus dem Zyklus op. 39. Deren abschließendes Presto-Finale steht an der Grenze zur Unspielbarkeit. So hatte Alkan es immer gern.
Wolfram Goertz