Altmaier hält Lockdown-Lockerungen jetzt für möglich
Trotz hoher Infektionszahlen sieht der Bundeswirtschaftsminister Spielraum für Öffnungen. Doch insbesondere die Amtsärzte mahnen zur Vorsicht.
BERLIN Bundeswirtschaftsminister Peter Altmaier (CDU) hat wenige Tage vor der nächsten Beratungsrunde von Bund und Ländern zu den Corona-Maßnahmen für eine Rücknahme von Einschränkungen für die Wirtschaft plädiert – auch wenn die Infektionszahlen noch über dem zuletzt vereinbaren Zielwert liegen.
„Oberhalb einer Inzidenz von 50 Infektionen je 100.000 Einwohner eines Bundeslandes, eines Landkreises oder einer kreisfreien Stadt sind Lockerungen zulässig, wenn sie in Verbindung mit zusätzlichen Schutzmaßnahmen im Einzelfall vertretbar sind“, heißt es in einem Papier des Ministeriums, das unserer Redaktion
vorliegt. Darin bewirbt Altmaier Schnell- und Selbsttests sowie Apps zur Kontaktnachverfolgung als weitere Maßnahmen. Der zuletzt von Bund und Ländern vereinbarte Inzidenzwert von 35 Neuinfektionen je 100.000 Einwohner und Woche als Ziel „wird unter der Voraussetzung der zusätzlichen Sicherungsmaßnahmen derzeit nicht für erforderlich gehalten“, heißt es im Schreiben, das Altmaiers Beratungen mit Wirtschaftsverbänden zusammenfasst.
Damit gibt Altmaier bereits einen deutlich abgeschwächten Kurs vor, als es zuletzt Virologen und Epidemiologen empfohlen hatten. Am Mittwoch will die Ministerpräsidentenkonferenz mit Kanzlerin Angela Merkel (CDU) über das weitere Vorgehen
in der Pandemie beraten. Der Einzelhandel ist seit Mitte Dezember weitgehend dicht. Friseurbetriebe konnten am Montag unter strengen Hygienevorschriften öffnen, in einigen Bundesländern auch Baumärkte und Gartencenter. Ob der Lockdown noch einmal verlängert wird, ist offen. Merkel hatte zugesagt, am Mittwoch einen Stufenplan zur schrittweisen Öffnung vorlegen zu wollen. Mit dessen Formulierung ist eine Arbeitsgruppe von Bund und Ländern befasst.
Der Handelsverband HDE hat sehr klare Vorstellungen: „Ich erwarte von den Ministerpräsidenten und der Kanzlerin, dass sie am Mittwoch einen Plan für sofortige Öffnungen der Einzelhandelsgeschäfte vorlegen“, sagte Hauptgeschäftsführer Stefan Genth: „Die Hygieneschutzkonzepte der Geschäfte reichen aus, um keinen Beitrag zum Infektionsgeschehen zu leisten.“
Unterdessen wachsen die juristischen Zweifel an der Verhältnismäßigkeit der Maßnahmen. Staatsrechtler Thorsten Kingreen hat die Bevorzugung von Friseuren gegenüber anderen Dienstleistern bei den Öffnungen aus dem Corona-Lockdown kritisiert. „Die politische Motivation dahinter kann ich schon verstehen, weil wir ja überall sehen, dass die Haare länger werden und der Öffnungsdruck insgesamt immer größer wird“, sagte Kingreen. „Aber die Ungleichbehandlung mit anderen Dienstleistungen leuchtet mir nicht ein.“Zugleich plädierte der Jurist von der Universität Regensburg für weitere Öffnungsschritte: „Aus juristischer Sicht sind Grundrechtseingriffe in dieser Schwere auf Dauer nur gerechtfertigt, wenn das Risiko besteht, dass unser Gesundheitssystem überfordert ist.“
Aus Regierungskreisen hieß es am Montag, dass Schnell- und Selbsttests eine zentrale Rolle spielen könnten, um Öffnungen zu ermöglichen. Zugleich dämpfte Merkels Sprecher Steffen Seibert die Erwartungen an umfassende Öffnungen. Er mahnte zur Vorsicht: Alle Anstrengungen müssten nun „darauf gerichtet sein, dass es keine steilere Zunahme“der Infektionszahlen gebe, sagte er. Zuvor hatte Bundesfinanzminister Olaf
Scholz (SPD) sich dafür ausgesprochen, die nächsten Öffnungsschritte nicht mehr allein vom Erreichen bestimmter Inzidenzwerte wie 50 oder 35 abhängig zu machen. Stattdessen müssten umfangreiche Schnelltests „aktiv für eine Öffnungsstrategie“genutzt werden, sagte der Vizekanzler der „Bild“-Zeitung.
Die Vorsitzende des Bundesverbandes deutscher Amtsärzte, Ute Teichert, mahnte mehr staatliche Anstrengungen in der Pandemiebekämpfung an. „Wir müssen endlich die Kontrolle über das Infektionsgeschehen zurückgewinnen“, sagte sie. „Das Virus ist im Augenblick immer noch schneller als unsere Maßnahmen, wir reagieren nur. Das muss sich ändern.“