Die zwei Gesichter der Niederlande
Wie erwartet ist Mark Rutte nach der Parlamentswahl der Sieger. Doch das Ergebnis ist gegensätzlicher, als es den Anschein hat.
DEN HAAG Die selbst erklärte „neue Leitung“des Landes tanzte auf dem Tisch, als die ersten Ergebnisse bekannt wurden. Es war ein kurzer Moment der Ausgelassenheit an einem ansonsten nüchternen Wahlabend, als Sigrid Kaag, Spitzenkandidatin der links-liberalen Demokraten (D66), die unter diesem Slogan Wahlkampf geführt hatte, losgelöst die Arme ausstreckte, umringt von einigen um den Tisch herumstehenden Parteikollegen.
Zweifellos ist es das Bild dieser historischen, coronabedingt drei Tage dauernden Parlamentswahl. Eine Spur von Aufbruch steckt darin, der Wunsch nach einem Neubeginn voller Esprit, nachhaltig und inklusiv. Mehr noch als in der letzten MitteRechts-Koalition wird D66, die als zweitstärkste Partei des Landes das beste Ergebnis ihrer Geschichte holte, zu einem entscheidenden Faktor in Den Haag.
Das Bild von Kaag ist auch deshalb bemerkenswert, weil sich die Niederlande an die Siegerpose Mark Ruttes und seiner Volkspartei ( VVD) gewöhnt haben. Zum vierten Mal in Reihe hat die oft als rechtsliberal bezeichnete Partei gewonnen. Die wirkliche Leitung des Landes bleibt also in Händen der VVD – womöglich auch, weil sie im aktuellen Wahlprogramm ihre marktradikale Rhetorik auffällig gedrosselt hat und auf Investitionen setzt.
VVD und D66, die gemeinsam auf mindestens 60 der 150 Sitze kommen, sind als Block der künftigen Koalition damit gesetzt. Gemeinsam mit dem bisherigen christdemokratischen Partner CDA hätten sie trotz dessen Verluste eine Mehrheit – eine komfortablere Position als 2017, als diese Formel nur mithilfe der calvinistischen Christenunion (CU) trug, die wohl erneut fünf Sitze holt.
Das Wahlergebnis bestätigt in erster Linie das vorherrschende Stimmungsbild des Wahlkampfs, das sich mit dem Bedürfnis nach Stabilität und dem Festhalten an Bekanntem und vermeintlich Bewährtem treffend charakterisieren lässt. Allerdings, und das unterstreicht der sich erst in den vergangenen Tagen abzeichnende, in dieser Deutlichkeit nicht erwartete D66-Erfolg: Es gibt in der niederländischen Gesellschaft auch einen weit verbreiteten Wunsch nach einem neuen Elan. Kein sozialdemokratisches Morgenrot – dafür ist die Abstrafung des linken Spektrums, das zusammen gerade einmal auf soviele Sitze wie D66 kommt – zu deutlich. Wohl aber ein spürbares progressives Korrektiv der bisherigen Politik: grüner, mieterfreundlicher, mit starken Akzenten auf Bildung und Europa.
Sigrid Kaag verkörpert diese Hoffnung. Sie steht aber auch für ein Projekt, das alles andere als unumstritten ist, doch wie kein anderes den Nerv der Zeit trifft: einen Weg aus dem Lockdown für Personen, die eine Impfung oder einen negativen Test vorweisen können. Das Wahlergebnis beschafft diesem Vorhaben ein Momentum – in den Niederlanden, aber auch darüber hinaus. Nicht umsonst arbeitet die EU-Kommission derzeit an einem vergleichbaren Konzept, und nicht umsonst gilt D66 als europafreundlichste Partei der Niederlande.
Wobei: letzteres trifft künftig nicht mehr zu, denn mit dem erstmaligen Einzug in eine nationale Volksvertretung mit gleich drei Sitzen schrieb die europäische Partei Volt am Mittwoch Geschichte. Was zeigt, dass nach zwei Jahrzehnten rechtspopulistischer Agitation gegen Europa in den Niederlanden und wachsender Euroskepsis bis weit in den Mainstream auch die Gegenseite sich inzwischen laut und vernehmlich artikuliert – und das mit elektoralem Erfolg.
Zweifellos stärkt diese Entwicklung auch pro-europäische Akteure in anderen Staaten. Abzuwarten bleibt dennoch, inwieweit die Schlüsselposition von D66 in Den Haag auch das zuletzt häufig kritisierte niederländische Auftreten in Brüssel verändert. Innerhalb der EU wurden die Niederlande während der ersten Welle der Corona-Krise zum Symbol der Sparsamen Vier, die gegen die finanzielle Umverteilung der Pandemiekosten opponierte. Ob die Position sich künftig nun wieder eher an Deutschland und Frankreich als an Österreich orientiert, ist fraglich – auch weil VVD und D66 hier offensichtlich nicht auf der gleichen Linie liegen.
Auch wenn es um die EU-freundliche Gesinnung inzwischen in den Niederlanden sehr ambivalent bestellt ist, hat sich eines doch nicht verändert: ihre Position als Musterland, in dem sich neue politische Tendenzen und Bewegungen eher zeigen als in anderen Ländern. Was für das Aufkommen der Rechtspopulisten oder vor vier Jahren der stark migrantisch geprägten Parteien galt, sieht man nun am massiven Zuwachs des rechten Forum für Demokratie (FvD). Entschieden wie keine andere Partei wandte man sich im Wahlkampf gegen die Corona-Maßnahmen der Regierung und fuhr in bester Trump-Manier demonstrativ durchs Land.
Der Schulterschluss zwischen Rechtsextremen und CoronaLeugnern hat sich auf zahlreichen Demonstrationen in den vergangenen Monaten angedeutet und schlägt nun auch elektoral zu Buche. Dass dies trotz einer noch recht frischen Enthüllung der offen rassistischen, antisemitischen und homophoben Rhetorik innerhalb interner Chatgruppen geschieht, lässt zwei Schlüsse zu: fahrlässige Akzeptanz oder Zustimmung. Gerade für Deutschland sind beide im Hinblick auf die Zeit bis zur Bundestagswahl im September eine Warnung.