Neue Spielregeln mit der Türkei
Die Erklärung von US-Präsident Biden zum Völkermord an den Armeniern ist ein Wendepunkt in den Beziehungen zwischen den USA und der Türkei. Präsident Erdogan hat bisher in der Annahme gehandelt, die Türkei sei für den Westen so unentbehrlich, dass selbst die USA darauf achten müsse, sie nicht zu verärgern. Das hat sich geändert. Biden will Ankara klarmachen, dass die Türkei Amerika mehr braucht als umgekehrt. Die Türkei versteht sich als Regionalmacht, an der niemand vorbeikommt. Doch die Biden-Regierung sieht Erdogan als Autokraten, dem Grenzen gesetzt werden müssen. In seinem Telefonat mit Erdogan am Tag vor der Armenier-Erklärung sagte der US-Präsident, er wolle „mit Meinungsverschiedenheiten effizient umgehen“. Das hätte er auch über Russland sagen können. Dass die türkisch-amerikanischen Streitigkeiten – etwa wegen der engen türkischen Beziehungen zu Russland und der amerikanischen Zusammenarbeit mit den syrischen Kurden – beigelegt werden könnten, erwartet Biden offenbar nicht.
„Wir dürfen die Türkei nicht verlieren“, lautete lange ein Grundsatz europäischer und amerikanischer Politik gegenüber Ankara. Biden signalisiert jetzt: Die Türkei ist dabei, den Westen zu verlieren. Damit ändern sich die Spielregeln. Die US-Regierung setzt darauf, dass die Türkei keine Alternative zum Westen hat. Russland oder China taugen weder strategisch noch wirtschaftlich als Ersatz, und der Traum von der türkischen Großmachtrolle gründet auf Selbstüberschätzung. Klare Signale sind das eine – wie Erdogan darauf reagiert, ist das andere. Eine Folge des türkisch-amerikanischen Streits könnte eine stärkere Hinwendung von Erdogan zur EU sein. Damit könnte Bidens Schritt also dazu beitragen, die Türkei auf den Boden der politischen Tatsachen zurückzuholen.
BERICHT EISZEIT ZWISCHEN DEN USA UND DER TÜRKEI, POLITIK