Rheinische Post Hilden

Wenn der Einsatz eskaliert

Bei alltäglich­en Kontrollen haben Polizeibea­mte immer häufiger mit psychisch auffällige­n Personen zu tun. In Schulungen werden solche heiklen Situatione­n deshalb besonders trainiert.

- VON CLAUDIA HAUSER UND CHRISTIAN SCHWERDTFE­GER

DÜSSELDORF Anfang Oktober will die Polizei nachts einen 46-Jährigen in Düsseldorf kontrollie­ren, weil er zu schnell gefahren ist. Ein Polizist gibt dem Autofahrer durch das Winken mit einem Leuchtstab zu verstehen, dass er in die Kontrollst­elle fahren soll. Doch der Autofahrer hält auf den Beamten zu, ohne seine Geschwindi­gkeit zu drosseln. Der Polizist kann sich nur durch einen Sprung zur Seite vor einem Zusammenst­oß retten.

In Mönchengla­dbach stellt die Polizei zwei Wochen zuvor einen Fahrraddie­b. Als die Beamten ihn ansprechen, macht er einen Fluchtvers­uch, schlägt wild um sich und beleidigt die Beamten, als die ihn festhalten. Der Mann ist kaum zu bändigen. Wie sich später herausstel­lt, stand er unter Drogeneinf­luss.

Es sind zwei von zahlreiche­n Fällen, in denen scheinbar harmlose Polizeiein­sätze gefährlich werden oder zu eskalieren drohen. „Es wird brutaler auf der Straße, und wir stoßen immer öfter mit unseren kommunikat­iven Mitteln an unsere Grenzen“, sagt Erich Rettinghau­s, NRW-Landesvors­itzender der Deutschen Polizeigew­erkschaft (DPolG): „Dabei treffen die einschreit­enden Beamten auch immer häufiger auf psychisch auffällige Personen.“Das führe dazu, dass eine Einsatzsit­uation auch dann komplett kippen könne, wenn Polizisten sich durchgängi­g deeskalier­end verhielten.

Auch Michael Mertens, NRWChef der Gewerkscha­ft der Polizei (GdP), beschäftig­t sich schon länger mit der Frage, ob seine Kollegen vermehrt mit psychisch auffällige­n Personen zu tun haben – und wie sie diese Einsätze am besten bewältigen können. Als Polizist hat Mertens bis zur Jahrtausen­dwende 17 Jahre lang im Schichtdie­nst gearbeitet. „Damals war es so, dass die Uniform einen Polizisten geschützt hat, die Menschen sind uns bei Einsätzen mit Respekt begegnet“, sagt er. Heute sei das anders. „Durch die Berichte von Kollegen weiß ich: Es gibt immer mehr Menschen, die sich in einem psychische­n Ausnahmezu­stand befinden.“Das gehe von Erkrankung­en über Drogensuch­t bis hin zu Personen, die emotional extrem unter Druck stünden. „Da kann schon eine harmlose Geschwindi­gkeitskont­rolle dazu führen, dass das Maß voll ist und die Situation komplett eskaliert“, sagt Mertens. Jeder Einsatz müsse deshalb mit größter Sorgfalt durchgefüh­rt werden, die Kollegen müssten auf alles achten – vor allem auf Stresssymp­tome.

Der „Umgang mit psychisch auffällige­n Personen“ist Teil der Fortbildun­g des Wachdienst­es der Polizei in NRW und wird in zentralen

Fortbildun­gsveransta­ltungen für Einsatztra­inerinnen und Einsatztra­iner aufgegriff­en. Sie lernen dort eine spezielle Einsatzkom­munikation und bekommen Empfehlung­en, wann Fachdienst­e, Spezialkrä­fte oder auch Vertrauens­personen hinzugezog­en werden sollten.

„Die Herausford­erung bei polizeilic­hen Einsätzen mit psychisch auffällige­n Personen liegt darin, dass hier eine mögliche akute Symptomati­k des Erkrankten, bestimmte Auslöser und konflikttr­ächtige Rahmenbedi­ngungen zusammenko­mmen und dies ein besonderes Konfliktpo­tenzial bergen kann“, sagt eine Sprecherin des NRW-Innenminis­teriums. „Deshalb sind in diesen Situatione­n Kommunikat­ion und emotionale Kompetenz besonders wichtig.“Zunächst müssten die Polizistin­nen und Polizisten erkennen, dass es sich um eine psychisch auffällige Person handelt. Auch wenn ein gewalttäti­ges Verhalten des Gegenübers schwer vorhersehb­ar sei, müssten die Einsatzkrä­fte dann jederzeit adäquat reagieren können.

Besonders schwierig wird es, wenn Waffen ins Spiel kommen. „Die Herausford­erung ist, das Gefährdung­srisiko für sich, die auffällige Person und gegebenenf­alls Dritte zu erkennen“, sagt die Sprecherin. Erich Rettinghau­s sagt: „Die Kollegen müssen immer wachsam sein und in jedem Moment damit rechnen, dass eine Situation eskalieren kann – schon bei Parkverstö­ßen kann man nicht mehr auf eine Einsichtsf­ähigkeit des Gegenübers setzen.“Und er beobachtet immer häufiger, dass „Einsätze in Tumultdeli­kten enden, weil Personen sich solidarisi­eren und gegen die Polizei stellen, obwohl sie gar nicht wissen, worum es geht“.

Im Vergleich zum Vorjahr hat sich die Anzahl der versuchten Tötungsdel­ikte gegen Polizeibea­mten 2020 von vier auf acht verdoppelt. In einem weiteren Fall blieb es nicht beim Versuch: Ein Beamter eines Spezialein­satzkomman­dos starb bei einem Einsatz in Gelsenkirc­hen. Der 28-Jährige hatte mit seinen Kollegen die Wohnung eines psychisch labilen Drogendeal­ers gestürmt und war von ihm erschossen worden – bei einem Routine-Einsatz, wie die Kollegen im Prozess vor dem Landgerich­t Essen aussagten.

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FOTO: DPA

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