Wenn der Einsatz eskaliert
Bei alltäglichen Kontrollen haben Polizeibeamte immer häufiger mit psychisch auffälligen Personen zu tun. In Schulungen werden solche heiklen Situationen deshalb besonders trainiert.
DÜSSELDORF Anfang Oktober will die Polizei nachts einen 46-Jährigen in Düsseldorf kontrollieren, weil er zu schnell gefahren ist. Ein Polizist gibt dem Autofahrer durch das Winken mit einem Leuchtstab zu verstehen, dass er in die Kontrollstelle fahren soll. Doch der Autofahrer hält auf den Beamten zu, ohne seine Geschwindigkeit zu drosseln. Der Polizist kann sich nur durch einen Sprung zur Seite vor einem Zusammenstoß retten.
In Mönchengladbach stellt die Polizei zwei Wochen zuvor einen Fahrraddieb. Als die Beamten ihn ansprechen, macht er einen Fluchtversuch, schlägt wild um sich und beleidigt die Beamten, als die ihn festhalten. Der Mann ist kaum zu bändigen. Wie sich später herausstellt, stand er unter Drogeneinfluss.
Es sind zwei von zahlreichen Fällen, in denen scheinbar harmlose Polizeieinsätze gefährlich werden oder zu eskalieren drohen. „Es wird brutaler auf der Straße, und wir stoßen immer öfter mit unseren kommunikativen Mitteln an unsere Grenzen“, sagt Erich Rettinghaus, NRW-Landesvorsitzender der Deutschen Polizeigewerkschaft (DPolG): „Dabei treffen die einschreitenden Beamten auch immer häufiger auf psychisch auffällige Personen.“Das führe dazu, dass eine Einsatzsituation auch dann komplett kippen könne, wenn Polizisten sich durchgängig deeskalierend verhielten.
Auch Michael Mertens, NRWChef der Gewerkschaft der Polizei (GdP), beschäftigt sich schon länger mit der Frage, ob seine Kollegen vermehrt mit psychisch auffälligen Personen zu tun haben – und wie sie diese Einsätze am besten bewältigen können. Als Polizist hat Mertens bis zur Jahrtausendwende 17 Jahre lang im Schichtdienst gearbeitet. „Damals war es so, dass die Uniform einen Polizisten geschützt hat, die Menschen sind uns bei Einsätzen mit Respekt begegnet“, sagt er. Heute sei das anders. „Durch die Berichte von Kollegen weiß ich: Es gibt immer mehr Menschen, die sich in einem psychischen Ausnahmezustand befinden.“Das gehe von Erkrankungen über Drogensucht bis hin zu Personen, die emotional extrem unter Druck stünden. „Da kann schon eine harmlose Geschwindigkeitskontrolle dazu führen, dass das Maß voll ist und die Situation komplett eskaliert“, sagt Mertens. Jeder Einsatz müsse deshalb mit größter Sorgfalt durchgeführt werden, die Kollegen müssten auf alles achten – vor allem auf Stresssymptome.
Der „Umgang mit psychisch auffälligen Personen“ist Teil der Fortbildung des Wachdienstes der Polizei in NRW und wird in zentralen
Fortbildungsveranstaltungen für Einsatztrainerinnen und Einsatztrainer aufgegriffen. Sie lernen dort eine spezielle Einsatzkommunikation und bekommen Empfehlungen, wann Fachdienste, Spezialkräfte oder auch Vertrauenspersonen hinzugezogen werden sollten.
„Die Herausforderung bei polizeilichen Einsätzen mit psychisch auffälligen Personen liegt darin, dass hier eine mögliche akute Symptomatik des Erkrankten, bestimmte Auslöser und konfliktträchtige Rahmenbedingungen zusammenkommen und dies ein besonderes Konfliktpotenzial bergen kann“, sagt eine Sprecherin des NRW-Innenministeriums. „Deshalb sind in diesen Situationen Kommunikation und emotionale Kompetenz besonders wichtig.“Zunächst müssten die Polizistinnen und Polizisten erkennen, dass es sich um eine psychisch auffällige Person handelt. Auch wenn ein gewalttätiges Verhalten des Gegenübers schwer vorhersehbar sei, müssten die Einsatzkräfte dann jederzeit adäquat reagieren können.
Besonders schwierig wird es, wenn Waffen ins Spiel kommen. „Die Herausforderung ist, das Gefährdungsrisiko für sich, die auffällige Person und gegebenenfalls Dritte zu erkennen“, sagt die Sprecherin. Erich Rettinghaus sagt: „Die Kollegen müssen immer wachsam sein und in jedem Moment damit rechnen, dass eine Situation eskalieren kann – schon bei Parkverstößen kann man nicht mehr auf eine Einsichtsfähigkeit des Gegenübers setzen.“Und er beobachtet immer häufiger, dass „Einsätze in Tumultdelikten enden, weil Personen sich solidarisieren und gegen die Polizei stellen, obwohl sie gar nicht wissen, worum es geht“.
Im Vergleich zum Vorjahr hat sich die Anzahl der versuchten Tötungsdelikte gegen Polizeibeamten 2020 von vier auf acht verdoppelt. In einem weiteren Fall blieb es nicht beim Versuch: Ein Beamter eines Spezialeinsatzkommandos starb bei einem Einsatz in Gelsenkirchen. Der 28-Jährige hatte mit seinen Kollegen die Wohnung eines psychisch labilen Drogendealers gestürmt und war von ihm erschossen worden – bei einem Routine-Einsatz, wie die Kollegen im Prozess vor dem Landgericht Essen aussagten.