Italiens Impfkonflikt
Seit dieser Woche gibt es in dem Land eine indirekte Impfpflicht. Das hat weitreichende Folgen – unter anderem eine neue Blüte des Extremismus. Die Konflikte gehen bis in die Zeit des Faschismus zurück.
Seit dieser Woche müssen Italiens Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer den sogenannten Green Pass vorzeigen, wenn sie zur Arbeit gehen. Das bedeutet: Sie müssen geimpft sein, Covid-19 überstanden haben oder einen negativen Test vorzeigen. Damit hat die Regierung von Ministerpräsident Mario Draghi eine indirekte Impfpflicht eingeführt. Denn praktisch und finanziell gesehen ist es von niemandem zu verlangen, sich für den Gang zum Arbeitsplatz alle paar Tage auf Corona testen zu lassen. Die Impfquote steigt angesichts der Verschärfung der Regeln weiter, in der erwachsenen Bevölkerung sind mehr als 80 Prozent vollständig geimpft. Das Kalkül der Regierung, die eine Vollimmunisierung der Bevölkerung anstrebt, geht auf.
In der EU ist Italien Vorreiter einer Entwicklung, in der Freiheitsrechte drastisch eingeschränkt werden. Gerechtfertigt werden diese Maßnahmen mit der Bedrohung durch die Pandemie. Das ist legitim, wenn man andere Einschränkungen nicht mehr in Kauf nehmen will. Die Folgen einer solchen Politik sollten aber nicht aus den Augen gelassen werden. Denn Politik, die mit (indirektem) Zwang ans Ziel kommen will, bedarf absoluter Transparenz. Dann können die Betroffenen die extremen Entscheidung nachvollziehen, andernfalls wächst radikaler Protest.
Italiens Nachbarländer tun gut daran, mit den Zwangsmaßnahmen nicht zu weit zu gehen. Sie blicken gespannt auf die Entwicklung südlich der Alpen. Registriert wird auch der Widerstand gegen die Maßnahmen. Regelmäßig gehen Tausende beispielsweise in Rom und in Mailand auf die Straße, um friedlich gegen die Maßnahmen zu protestieren. Die Menge ist vielfältig, sie eint allein der Protest gegen die staatlichen Maßnahmen. Man hat es mit Verschwörungstheoretikern zu tun, mit Impfgegnern oder Menschen, denen die staatlichen Antworten auf die Pandemie einfach zu weit gehen. Auch Extremisten sind unter den Demonstranten, sie versuchen, den Protest für ihre Zwecke auszunutzen. Vor einer Woche stürmten Rechtsextremisten den Sitz einer Gewerkschaft in Rom, am vergangenen Samstag unterwanderten Linksextreme
eine Demonstration in Mailand.
Es ist also falsch, diejenigen, die sich gegen die Zwangsmaßnahmen auflehnen, generell als Extremisten abzustempeln. Die Vernünftigen unter den Kritikern haben gute Argumente. De facto zwingt der italienische Staat die Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer in Italien zur Impfung. Formaljuristisch gesehen handelt es sich bei einer Impfung um eine Körperverletzung, deshalb müssen Geimpfte per Unterschrift einwilligen und jede Verantwortung für die Folgen der Immunisierung übernehmen. So schützen sich Staat und Hersteller gegen Schadenersatzansprüche. Die Corona-Impfungen haben – daran besteht kein Zweifel – meist sehr geringe, aber in sehr seltenen Fällen auch schwere Nebenwirkungen.
De facto verpflichtet Italien 23 Millionen Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer zur Immunisierung.
Konsequenterweise müsste der Staat dann auch eine Antwort geben auf die Frage, was mit den Wenigen ist, die von der Immunisierung Schaden davontragen. Weil eine derart korrekte und offene Kommunikation dem Ziel einer fast vollständigen Impfquote entgegensteht, wird das Thema unter dem Tisch gehalten. Doch die meisten Fragen, die künstlich vermieden werden, drängen irgendwann an die Oberfläche.
Das gilt auch für den wachsenden Extremismus in Italien, der, angefeuert von den gesellschaftlichen Spaltungen infolge der Pandemie, eine besorgniserregende Blüte erlebt. Italiens Verfassungsväter haben die Verfassung 1946 nach der verheerenden Erfahrung des Faschismus aufgesetzt. Einem Teil der Republik, repräsentiert durch das neofaschistische Movimento Sociale Italiano (MSI), lag aber trotz allem an Kontinuität zum Regime. Seine
Nachfolgepartei „Fratelli d‘Italia“ist Umfragen zufolge mit rund 20 Prozent derzeit stärkste Partei im konservativen Lager. Die jährliche Feier des 25. April, des Tages der Befreiung vom Nazifaschismus, ist in Italien bis heute umstritten. Während linke Parteien an die eigene Partisanen-Tradition
erinnern, fühlen sich Mitglieder rechter Parteien nicht repräsentiert. Ein nie gelöster Konflikt der Nachkriegszeit drängt wieder an die Oberfläche. Die Pandemie wirkt wie ein Brandbeschleuniger. Am Samstag in Rom demonstrierten Zehntausende mit Partisanen-Liedern und -symbolen aus Solidarität für die vor einer Woche von Rechtsradikalen angegriffene Gewerkschaft. Gleichzeitig sind rechte Extremisten wieder besonders präsent in Öffentlichkeit und Institutionen.
Wie kann der Konflikt gelöst werden? Die „andere Seite“ihrer Fehler oder kruden Ansichten zu beschuldigen, verspricht wenig Fortschritt. Stattdessen werden dadurch Differenzen zu handfesten Konflikten. Vielversprechend ist die Methode der Aufarbeitung von Konflikten über Generationen hinweg, auf persönlicher und gesellschaftlicher Ebene. Hier müssten Versöhnungsprojekte vom Staat gefördert werden. In der Psychologie ist bekannt, wie die Folgen schwerer Konflikte über mehrere Generationen hinweg unbewusst übertragen werden und heutige Generationen prägen, in Italien, Deutschland, Österreich und anderswo. Die Aufschlüsselung dieser meist aus Treue zur eigenen Familie aufrechterhaltenen Verhaltensmuster wäre ein mühsamer, aber vielversprechender Schritt in die richtige Richtung.