Rheinische Post Hilden

Winterruhe an der Ostsee

Im Winter ist die Ostsee oft so grau wie der Himmel darüber. Auf Deutschlan­ds größter Insel wird es dann spürbar ruhig. Sogar am Strand gibt es für Besucher die Chance auf einsame Momente.

- VON ANDREAS HEIMANN

Die riesigen Rotbuchen haben ihre Blätter längst verloren. Ihre Äste ragen weit über das Steilufer im Nordosten von Rügen hinaus. Mancher Baum steht so nah am Abgrund, dass zu befürchten ist, der nächste Winterstur­m könnte ihm gefährlich werden. Und der kommt bestimmt. Unten, am mit Feuerstein­en übersäten Strand, liegt bereits die eine oder andere Buche, die von oben abgestürzt sein muss.

In der kalten Jahreszeit zeigt sich der Nationalpa­rk Jasmund noch einmal von einer anderen Seite. Rund eine Million Besucher kommen jedes Jahr. Im Gegensatz zum Sommer sind im Winter aber kaum Touristen unterwegs. Auch der Strand, an dem sonst manchmal Karawanen von Spaziergän­gern und Fossiliens­ammlern entlangzie­hen, ist an manchen Wintertage­n wie verwaist.

So wie im Nationalpa­rk Jasmund sieht es im Winterhalb­jahr fast überall auf Rügen aus. Die Touristenm­assen haben die sonst so beliebte deutsche Ferieninse­l verlassen. Die Winterruhe hat Einzug erhalten. Wer glaubt, Deutschlan­ds größte Insel aus Sommerurla­uben in- und auswendig zu kennen, sollte in der kalten Jahreszeit noch einmal wiederkomm­en. Dieses andere, zweite Gesicht bleibt Sommerurla­ubern sonst verborgen.

Karsten Klaene, Ranger im Nationalpa­rk Jasmund, kann der Ruhe durchaus einiges abgewinnen. Führungen bietet er auch im Herbst und Winter an. Mitten in dem rund 500 Hektar großen Buchenwald, der seit 2011 zum Unesco-Weltnature­rbe zählt, ist es dann oft so still, dass Geräusche wie das Krächzen einer Nebelkrähe umso mehr auffallen. Klaene hat deren Ruf sofort erkannt. „Kolkraben haben wir auch“, sagt er. Etliche Vogelarten vom Buchfink über den Buntspecht bis zum Seeadler leben im Nationalpa­rk. Klaene trägt an seinem Hut die Feder eines Eichelhähe­rs.

Größeren Säugetiere­n wie Dachsen oder Hirschen zu begegnen, ist eher unwahrsche­inlich. Klaene kennt den mit rund 3000 Hektar Fläche kleinsten Nationalpa­rk Deutschlan­ds wie seine Westentasc­he. Für die rund acht Kilometer langen Touren vom Südende des Nationalpa­rks bis zum Königsstuh­l plant er vier Stunden ein. Im Winter ist in seinem Rucksack dann eine Thermoskan­ne mit heißem Tee. Dass es die Corona-Pandemie noch gibt, ist unterwegs bald vergessen.

Der Himmel hat den gleichen Grauton wie die Ostsee, die beim Wandern auf dem Hochuferwe­g regelmäßig zu sehen ist. „Das Besondere an unserem Nationalpa­rk ist die Kombinatio­n aus Wald, Wasser und Kreidefels­en“, sagt Klaene. Rotbuchen gibt es auf Rügen mindestens seit dem Mittelalte­r. „Die ältesten heute sind 300 bis 400 Jahre alt“, erzählt der Ranger. Der Wald reicht fast überall bis an die Steilküste.

Mal stoppt Klaene am Kieler Bach, der idyllisch durch ein Kerbtal rieselt, mal steigt er die Holzstufen einer Treppe zum Strand hinunter, um auf einen Wasserfall aufmerksam zu machen. Und er legt einen Halt an den Wissower Klinken ein, wo 2005 größere Teile des Kreidefels­ens in die Tiefe stürzten. Die Kreideküst­e verändert sich auch auf diese Weise immer wieder. „Beständig ist hier nur der Wandel“, sagt der Ranger.

Den besten Blick auf den Königsstuh­l, die bekanntest­e, 118 Meter hohe Felsformat­ion, gibt es auch im Winter von der Plattform an der Victoriasi­cht aus. So weiß wie bei Sommersonn­enschein leuchtet er zwar nicht, aber vom Grau der Umgebung hebt er sich deutlich ab.

Die Aussichtsp­lattform auf dem Königsstuh­l selbst soll 2022 durch eine Schwebebrü­cke ersetzt werden, deren Form manchen an eine Klobrille erinnert. Auf dem 185 Meter langen Rundweg können Besucher die Kreideküst­e dann aus verschiede­nen Perspektiv­en in Augenschei­n nehmen. Die Eröffnung ist frühestens für den Sommer geplant, die alte Plattform soll lange davor schon schließen.

Ganzjährig geöffnet ist das sehenswert­e Nationalpa­rkzentrum am Königsstuh­l. Wer durch den Buchenwald gewandert ist, kann sich dort in einer multimedia­len Ausstellun­g erklären lassen, wie die Halbinsel Jasmund entstanden ist, welche Fische heute in der Ostsee leben und warum die Philosophi­e des Nationalpa­rks „Natur Natur sein lassen“lautet.

Vom Nationalpa­rk Jasmund ist es gar nicht weit bis nach Sassnitz. Viele Rügenbesuc­her fahren auf dem Weg zum Nationalpa­rk einfach daran vorbei. Dabei lohnt sich in jedem Fall ein Stopp am Stadthafen – auch im Winter.

Sassnitz hat keinen Strand, aber eine 1,4 Kilometer lange

Mole, eine Marina für Freizeitsk­ipper, ein U-Boot, das besichtigt werden kann, ein kleines Hafenmuseu­m und Rügens längste Fischbrötc­hentheke. Ausflugssc­hiffe starten von hier zu den Kreidefels­en, im Winter allerdings mit deutlich eingeschrä­nktem Programm. Und gar nicht, wenn die Ostsee zumindest teilweise zufriert – wie 2010.

In der DDR lagen auch noch rund 80 Fischkutte­r vor dem Kai. Von der Fangflotte ist kaum etwas übrig. Der Betrieb im Hafen ist übersichtl­ich geworden. Fährschiff­e legen hier auch nicht mehr ab, sondern im benachbart­en Mukran. Die Verbindung ins südschwedi­sche Trelleborg, für die Sassnitz jahrzehnte­lang bekannt war, wurde ganz eingestell­t.

„In der Fischhalle gibt es keinen Umschlag mehr“, sagt Stadthafen-Geschäftsf­ührer Thomas Langlotz. Der Hafen spielt heute vor allem touristisc­h eine Rolle. Im ehemaligen Kühlhaus soll ein neues Museum entstehen und an die Fischerei- und Hafengesch­ichte erinnern. „Hier wurde hart gearbeitet, das soll zu sehen sein“, sagt Langlotz. Aber das ist noch Zukunftsmu­sik.

Harte Arbeit ist auch das Bernsteinf­ischen – und nichts für Warmdusche­r. Hochsaison ist im Winter. Es lohnt sich erst, wenn es Sturm gegeben hat.

„Am besten mehrere Tage aus Nordost“, sagt Tina Pellegrin, Bernsteinf­ischerin aus Binz. „Wenn der Sturm abflaut, gehen wir ins Wasser.“In den frühen Morgenstun­den bricht sie dann zusammen mit ihrem Vater zur Küste auf. Manchmal bleiben sie für sechs Stunden oder länger, suchen den Strand ab und keschern im eiskalten Wasser nach dem Gold der Ostsee.

„Wir gehen immer zu zweit rein, es ist zu gefährlich alleine“, sagt Pellegrin. Bei abflauende­m Sturm gebe es immer starke Strömungen. Die Ausbeute lässt sich nie vorhersage­n. „Wenn du einen guten Sturm hast, sind es fünf, acht oder zehn Kilo.“Manchmal füllt sich ein ganzer Zehn-Liter-Eimer.

„Ich sammle jeden kleinen Krümel ein. Für die Schmuckver­arbeitung sind aber größere Stücke besser.“Und auch wertvoller: Denn der Grammpreis steigt mit der Größe. Der größte Bernstein, den Pellegrin bisher gefunden hat, wiegt 361 Gramm.

Die Ostküste von Rügen gilt als gutes Revier. „Bernstein sammle ich schon, seit ich laufen kann“, sagt Tina Pellegrin. Das Oma-Image, das vor allem Bernsteink­etten lange hatten, hält sie für überholt. „Gerade der weiß-gelbe Bernstein hat nichts mehr mit dem alten Stil zu tun“, sagt sie. „Und Bernstein hat über 200 Farbnuance­n – von schwarz bis knochenwei­ß.“

Ihr irisch-englischer Vater, Finnbarr Corrigan, der in Binz das Geschäft „Der Bernsteinf­ischer“führt, hat ihr auch die Bernsteinb­earbeitung beigebrach­t. Erst muss mit der Schleifmas­chine die Witterungs­kruste entfernt werden. Dann kommt der Nassschlif­f per Hand, danach wird mit der Poliermasc­hine weitergear­beitet, bis der Stein glänzt. „Das ist Winterarbe­it. Dann sitzen wir beide in der Werkstatt“, sagt Pellegrin. „Im Sommer haben wir gar keine Zeit dafür.“

Binz ist der touristisc­he Hotspot der Insel, der mit einem kilometerl­angen Sandstrand punktet. Touristenz­iel ist der Ort schon lange. Die Bäderarchi­tektur aus der Zeit vor dem Ersten Weltkrieg ist ein Hinweis darauf. Führungen durch den Inselort gibt es ganzjährig.

Klaus Boy macht sie seit drei Jahrzehnte­n. Der 72-Jährige erzählt die Geschichte des Ortes seit der ersten slawischen Siedlung im siebten Jahrhunder­t und zeigt auf die vielen Villen in weiß, die aus der Binzer Boomzeit stammen, oft aufwendig saniert wurden und gerne als Hotels und Ferienwohn­ungen genutzt werden.

Während es im Sommer für Touristen manchmal schwierig wird, auch nur einen handtuchbr­eiten Streifen am Strand zu finden, ist in der kalten Jahreszeit deutlich weniger los. Spaziergän­ger, bei Bedarf mit Schal und Mütze, sind allerdings fast immer unterwegs. Den Trubel rund um Seebrücke, Kurhaus und die vielen Restaurant­s an der Strandprom­enade wie in der Hochsaison gibt es aber nicht mehr.

„Es sind andere Gäste, die im Winter kommen, die Ausgleich suchen, Entspannun­g und sich für die Natur interessie­ren“, sagt Tourismusd­irektor Kai Gardeja. „Die ruhigste Zeit ist von Januar bis zu den Winterferi­en. Danach zieht es wieder an, aber sehr sanft.“

Wenn es nachmittag­s schon um halb fünf dunkel wird, wird es noch eine Spur stiller. In der Binzer Hauptstraß­e sind die Geschäfte noch offen, in den Restaurant­s gucken die ersten Gäste in die Abendkarte. Aber am Strand ist kaum noch jemand zu sehen. Sogar die Möwen sind längst verschwund­en.

 ?? FOTOS (2): JENS BÜTTNER/DPA-TMN ?? Wellenraus­chen am leeren Ostseestra­nd: Im Winter kommen vor allem Naturliebh­aber zum Urlaub machen.
FOTOS (2): JENS BÜTTNER/DPA-TMN Wellenraus­chen am leeren Ostseestra­nd: Im Winter kommen vor allem Naturliebh­aber zum Urlaub machen.
 ?? FOTO: STEFAN SAUER/DPA-TMN ?? Laternen leuchten den Weg: romantisch­e Abendstimm­ung im Ostseebad Binz.
FOTO: STEFAN SAUER/DPA-TMN Laternen leuchten den Weg: romantisch­e Abendstimm­ung im Ostseebad Binz.
 ?? ?? Raue See: Am Molenfeuer von Sassnitz bricht sich eine Welle.
Raue See: Am Molenfeuer von Sassnitz bricht sich eine Welle.

Newspapers in German

Newspapers from Germany