Gas aus Katar soll Europas Versorgung sichern
ISTANBUL/DOHA Als in Großbritannien das Gas knapp wurde, sprang Katar ein als Retter in der Not: Im November schickte das kleine Emirat am Persischen Golf auf Bitten des Londoner Premiers Boris Johnson vier riesige Flüssiggas-Tanker durch den Suez-Kanal und das Mittelmeer in die Nordsee, um den Briten zu helfen. Nun soll Katar dasselbe für ganz Europa tun, falls Russland wegen der Ukraine-Krise den Hahn zudreht. Der Emir von Katar, Scheich Tamim bin Hamad Al-Thani, will bei einem Besuch in Washington mit US-Präsident Joe Biden über die Nothilfe für Europa reden. Die Frage ist aber, ob Katar genug Gas abzweigen kann, um Europa vor einer Krise zu bewahren.
Bisher liefert Katar rund fünf Prozent
der europäischen Gasimporte. Rund 40 Prozent ihrer Einfuhren bezieht die EU aus Russland. Norwegen und Algerien sind weitere wichtige Lieferanten. Zumindest theoretisch könnte Katar den Europäern wesentlich mehr Gas verkaufen als bisher. Das Emirat ist der weltweit größte Exporteur von Flüssiggas und besitzt Reserven von rund 25 Billionen Kubikmetern Erdgas, die vor seiner Küste lagern. Damit sitzt Katar auf den weltweit größten Erdgasreserven nach Russland und dem Iran.
Das Gas hat Katar reich gemacht: Das Pro-Kopf-Einkommen liegt bei 45.000 Euro im Jahr. Katar nutzt das Geld für eine Außenpolitik mit regionalpolitischen Ambitionen. Den Partner Türkei stützte das Emirat während einer Finanzkrise vor zwei Jahren mit Investitionszusagen in Höhe von 15 Milliarden US-Dollar; die Hilfe wird bis heute fortgesetzt. Im Jahr 2017 geriet das ehrgeizige Emirat mit seinen arabischen Nachbarn und Rivalen Saudi-Arabien und Vereinigte Arabische Emirate aneinander. Der Streit wurde vor einem Jahr beigelegt.
Als Standort eines wichtigen US-Militärstützpunktes mit rund 10.000 Soldaten ist Katar ein wichtiger Partner Washingtons im Nahen Osten. Derzeit versucht das Emirat, im Atomstreit zwischen Teheran und Washington zu vermitteln. Vor der ersten Fußball-Weltmeisterschaft auf arabischem Boden im Dezember arbeitet Gastgeber Katar außerdem daran, seinen Ruf aufzupolieren, der durch Berichte über die Ausbeutung von Arbeitern bei Bauarbeiten für das Großereignis ramponiert wurde.
Europa aus der Klemme zu helfen, passt deshalb ins außenpolitische Konzept von Katar. US-Außenminister Antony Blinken sprach laut Medienberichten vorige Woche mit seinem katarischen Kollegen Mohammad bin Abdulrahman Al-Thani über das Thema. Am Montag wurde der Emir bei Biden erwartet.
Washington befürchtet, dass Moskau als Reaktion auf westliche Sanktionen nach einem russischen Angriff auf die Ukraine die Gaslieferungen nach Europa drastisch drosseln könnte. Deshalb soll neben Katar auch Australien – ein weiterer Erdgas-Exporteur – angesprochen werden. Erdgas aus Amerika könnte den Europäern ebenfalls helfen. Ein Vorbild für eine solche Rettungsaktion gibt es bereits: Vor elf Jahren schickte Katar seine Gas-Tanker nach Japan, um die Folgen des Tsunamis
zu mildern. Allerdings kann Katar trotz seiner gewaltigen Reserven nicht beliebig mehr Erdgas fördern und verflüssigen, um die Exporte nach Europa zu steigern. Das Emirat produziere schon jetzt an der Obergrenze seiner Kapazität, so das US-Magazin „Forbes“. Daher konzentrieren sich die Gespräche auf die Umleitung von Exporten, die anderen Kunden versprochen sind. Schon seit Wochen leiten ErdgasExporteure einige ihrer Tankschiffe, die auf dem Weg nach Asien waren, nach Europa um. Abnehmer wie China, Japan und Südkorea haben langfristige Verträge über Lieferungen aus Katar und anderen Ländern abgeschlossen, doch oft sind ihre Lager voll. In Europa lässt sich mit dem überschüssigen Gas wegen der drastisch gestiegenen Energiepreise viel Geld verdienen.