„Ich verstehe den Ärger der Menschen“
Der Freiburger Virologie-Professor spricht über die Zeit nach Omikron und Kommunikationsschwächen der Politik. Seine Meinung zur Impfpflicht ist differenziert.
Herr Professor Hengel, momentan haben Sie einen krisensicheren Beruf, oder irre ich mich?
HENGEL Auf den ersten Blick mag das so scheinen. Aber es besteht eine massive Überforderungssituation, die unser Fach auch gefährdet.
Wieso?
HENGEL Die virologischen Institute an den deutschen Unikliniken sind nicht für Pandemien dimensioniert, und sie leiden unter dem finanziellen Druck, der über Jahrzehnten in der Hochschulmedizin in Deutschland aufgebaut worden ist. Wir wurden lange Zeit totgespart, nun aber werden wir täglich gebraucht.
Klingt nicht gut. Apropos schlechte Aussichten: Wie schätzen Sie denn die Corona-Zukunft ein? Gibt es ein halbwegs normales Leben nach Omikron?
HENGEL Die aktuelle Lage zeigt uns Virologen die atemberaubende Vielfalt von Sars-Cov-2. Es hat nun eine neue Variante generiert, die sich von den bisherigen Mutanten fundamental unterscheidet, weil die Übertragbarkeit viel höher ist. Gleichzeitig verlaufen die Infektionen milder. Spannend ist für mich, dass ein Virus, das so gut durch die Luft fliegen kann, nun eben nicht aus den tiefen Atemwegen kommt, sondern eher aus den oberen Atemwegen. Normalerweise ist es so, dass Erreger, die besonders tief aus der Lunge kommen, für Aerosole prädisponiert sind, das kennen wir von Tuberkulose oder Windpocken.
Neue Daten aus Südafrika zeigen, dass es aber durchaus OmikronTote gibt, doch im Verlauf eben deutlich später.
HENGEL Auch in Deutschland sterben Menschen an Omikron, es sind vor allem ältere Menschen. Andererseits gibt es immer noch DeltaFälle, die sich über viele Wochen hinziehen, was die Versorgungssituation auf den Intensivstationen erschwert.
Herr Streeck hat dieser Tage gesagt, dass wir uns – was Corona betrifft – auf ein Leben mit Sommer- und Winterreifen einstellen müssen. Stimmen Sie ihm zu?
HENGEL Ich glaube auch, dass wir im Sommer 2022 wieder eine sehr deutliche Verbesserung bekommen, wenn die klimatischen Verhältnisse besser werden. Das deckt sich übrigens auch mit der aktuellen Entwicklung in Südafrika. Die Durchseuchung, die wir durch Omikron erleben werden, wird aber nicht ausreichen für eine wirksame Herdenimmunität. Das wäre eine Fehleinschätzung. Eher glaube ich, dass das Virus im Herbst oder Winter in Form einer neuen Variante zurückkommt. Bis dahin werden wir vermutlich immer noch relativ viele Ungeimpfte haben – sie bleiben potenzielle Opfer für schwere Verläufe.
Also wir werden nach Omikron noch einen weiteren griechischen Buchstaben benötigen?
HENGEL Ja, das glaube ich schon. Wenn ich über Varianten nachdenke: Wieso sollte alles mit Omikron plötzlich aufhören? Das Virus hat seine Kreativität in der Generierung neuer Varianten bewiesen. Es erfindet sich immer wieder neu.
Glauben Sie nicht, dass die Situation
im kommenden Herbst doch entspannter sein wird – auch weil es im Land eine gewisse Grundimmunität gibt?
HENGEL Natürlich wünsche ich mir, dass die nächste Welle nicht so ausfällt wie Delta und Omikron. Aber wie stabil die Immunität durch die jetzigen Impfstoffe langfristig ist, wissen wir nicht. Wir ahnen schon jetzt, dass sie keine so nachhaltige Immunität erzeugen, wie wir gehofft haben. Wir müssen möglicherweise unsere Impfstrategie erweitern.
Wie denn?
HENGEL Wir müssen weitere ImpfAntigene
in unser Impfkonzept einbeziehen. Momentan setzen wir nur auf ein einziges und dabei besonders variables Antigen.
Sie meinen das Spike-Protein? HENGEL Ja. Und das ist nicht optimal. Oder anders gesagt: Das ist ergänzungsbedürftig. Wir könnten weitere Antigene einbeziehen, die auch für die T-Zell-Immunität besser geeignet sind als das Spike-Protein. Trotzdem dürfen diese Überlegungen keinesfalls ein Grund dafür sein, sich jetzt nicht impfen zu lassen. Denn auch die aktuelle Impfung schützt vor einem schweren Verlauf.
Momentan wird den Leuten ja alle zwei Tage eine neue Verordnung um die Ohren gehauen. Verstehen Sie den Ärger der Menschen? HENGEL Ja, den verstehe ich. Nehmen Sie die Verkürzung des Genesenenstatus. Ein Grund dafür wird sicher sein, dass sich so mehr Menschen boostern lassen. Aber es wurde nicht optimal kommuniziert.
Der Medizinstatistiker Gerd Antes hat neulich gegenüber unserer Redaktion
erneut kritisiert, dass in der Frühphase der Pandemie keine große Kohorte von Menschen gebildet und immer wieder getestet worden sei. Dann hätte man genauer gewusst, wie es etwa um die Grundimmunität der Bevölkerung bestellt ist.
HENGEL In der Tat, das ist ein Mangel. Andererseits gibt es in Deutschland die sogenannte nationale Kohorte, die streng repräsentativ gebildet worden ist. Das sind immerhin 20.000 Menschen. Warum diese Kohorte nicht genutzt werden kann, kann ich nicht erklären. Mangelt es an Geld, verbietet es der Datenschutz? Ich weiß es nicht.
Ich finde die deutsche Virologie übrigens in ihrer Außendarstellung problematisch. Tausend Leute reden durcheinander, und alle sagen etwas anderes. Da wissen die Leute nicht, auf wen sie sich verlassen sollen. Die „Querdenker“-Konkurrenz nutzt Youtube-Kanäle. Warum klappt das bei den Virologen nicht? HENGEL Nun, wir erreichen die Bevölkerung durchaus, aber eben nicht auf die dauererregte und wissenschaftlich haltlose Weise, wie es beispielsweise Herr Bhakdi tut. Auf den Social-Media-Kanälen muss notgedrungen vereinfacht und emotionalisiert werden, und das kann nicht die Art und Weise seriöser Wissenschaft sein.
Was halten Sie von einer allgemeinen Impfpflicht?
HENGEL Ich bin kein Freund einer allgemeinen Impfpflicht, weil ich als Arzt und Wissenschaftler an die Aufklärung glaube. Ich könnte mir allerdings für den Herbst, wenn entgegen allen Hoffnungen die Lage doch wieder dramatischer wird, eine zeitlich befristete Impfpflicht vorstellen. Auch eine Impfpflicht für Menschen über 50 ist ein guter Gedanke, der dem italienischen Vorbild folgt.
Wir Deutschen haben in zwei Jahren Pandemie leider keine guten Erfahrungen damit gemacht, wenn uns jemand befristete Auflagen angekündigt hat. Sie wurden sehr oft verlängert.
HENGEL Ja, es gab zu viel Wunschdenken während der Pandemie. Man kann doch eine klare Befristung in ein Gesetz schreiben. Das würde die Akzeptanz in der Bevölkerung erhöhen. Es geht ja nicht darum, Freiheitsrechte zu begrenzen, sondern die besonders verletzlichen Menschen vor einer gefährlichen Krankheit zu schützen – denn noch einmal gesagt: Das Impfen ist jetzt wichtig und wäre es noch viel mehr, wenn es eine neue virulente Variante geben sollte, die mehr schwere Verläufe hervorruft als Omikron.