Was die Wahl in Ungarn für die EU bedeutet
Mit Viktor Orbáns überraschend deutlicher Wiederwahl stellen sich für die Europäische Union neue Fragen. Orbáns politische Freundin Marine Le Pen nimmt es als Rückenwind für die Schlussphase des Präsidentschaftswahlkampfes in Frankreich. Damit käme die EU
BRÜSSEL Marine Le Pen war schneller als alle anderen. Von einem „überwältigenden Sieg“sprach die französische rechtspopulistische Präsidentschaftskandidatin bereits, als die Ergebnisse in Ungarn noch auf leicht schwankendem Boden standen. Dazu präsentierte sie bei Twitter ein Bild mit zwei derart freudestrahlend händeschüttelnden Protagonisten, dass die politisch nicht so interessierten Nutzer durchaus den Eindruck gewinnen konnten, hier zeigten sich zwei frisch gewählte Staatenlenker. Tatsächlich will Marine Le Pen die Wiederwahl ihres engen politischen Freundes Victor Orbán in Ungarn als Rückenwind für den eigenen Triumph über Emmanuel Macron nehmen: Schon an diesem Wochenende steigt der erste Wahlgang, der entscheidende zweite 14 Tage später. Käme es so, wäre Europa nicht wiederzuerkennen.
Schon die ersten Stellungnahmen deutscher Politiker machen deutlich, mit welcher Erwartungshaltung der Orbán-Sieg über ein Bündnis fast aller Oppositionsparteien verknüpft wird. Die ehemalige Bundesjustizministerin und aktuelle Vizepräsidentin des Europäischen Parlamentes, Katarina Barley, warf Orbán vor, „seine Macht so umfassend wie noch nie missbraucht“zu haben. Auch der FDP-Europa-Abgeordnete Moritz Körner sah den Wahlsieg Orbáns als „Ergebnis schamloser Wahlrechtsreformen,
Wählertäuschungen und Wahlgeschenke“– und er verband diese Einschätzung mit der Befürchtung, dass Orbán nun „die Putinisierung Ungarns für vier weitere Jahre fortsetzen“werde. Dagegen feierte AfD-Vorstandsmitglied Joachim Kuhs das Wahlergebnis als „entscheidenden Sieg“; Orbán sei „ein Leuchtturm in einer dunklen Zeit“.
Der Außenexperte der Union in Brüssel, Michael Gahler, führt das Ergebnis einer erneuten Zwei-Drittel-Mehrheit bei 53,1 Prozent der Zweitstimmen für Orbáns FideszPartei darauf zurück, dass die Ungarn in der Krisensituation mit Krieg im Nachbarland auf „Nummer sicher“hätten gehen wollen. Für den außenpolitischen Sprecher der Grünen im
Europa-Parlament, Reinhard Bütikofer, wird der Kampf um die Durchsetzung eines Minimums an Rechtsstaatlichkeit in Ungarn durch die Zementierung der Macht Orbáns „noch einmal schwerer“. Bütikofer sagt voraus, dass ohne die Staatsund Regierungschefs „Orbáns Autokratie nicht zu stoppen“sei. Deshalb meint Bütikofer auch, dass die Franzosen „hoffentlich“einen Präsidenten wählen, „auf den man sich in dieser Frage verlassen kann“.
Noch vor Wochen waren sich die meisten Beobachter einig, dass an der Wiederwahl Macrons kein Zweifel bestehe. Doch jüngste Umfragen sehen Macron nur noch knapp vor Le Pen. Viele sind von seiner Präsidentschaft enttäuscht. Sie könnten im zweiten Wahlgang ins Lager der Nichtwähler abwandern, während Le Pen einer nie zuvor erlebten Zustimmungsrate entgegensteuert. Eine Präsidentschaft Le Pens mit ihren „Frankreich zuerst“-Überzeugungen träfe auf eine EU, die sich nach dem Ausscheiden Angela Merkels noch nicht neu formiert hat. Olaf Scholz wurde bei den jüngsten Gipfeltreffen eher als Bremser wahrgenommen. Vor allem osteuropäische Staaten erleben mit zunehmender Bitternis, wie Berlin beim EnergieEmbargo gegen Russland zögert, obwohl täglich neue Kriegsverbrechen beobachtet werden und Putins Anhänger öffentlich darüber sprechen, dass nach der Ukraine auch Polen und die Balten an die Reihe kämen.
Doch auch Orbáns Stellung verändert sich. Mit Blick auf sein Lavieren zwischen Brüssel und Moskau, seiner Weigerung, über ungarisches Gebiet Waffen in die Ukraine liefern zu lassen, erzürnte er Slowaken, Tschechen und Polen. Sie ließen ein in Budapest geplantes Treffen dieser VisegradStaaten platzen. Und sie empörten sich darüber, dass für ungarische Politiker „russisches Öl wichtiger als ukrainisches Blut“sei. Statt einer von vier Staaten, die Druck auf Brüssel erzeugen, war Ungarn in der vergangenen Woche bereits einer von elf, die verstärkte Unterstützung in der Flüchtlingskrise von der EU einforderten. Das verleiht dem gemeinsamen Anliegen mehr Einfluss, mindert jedoch auch Orbáns Gewicht.