Von wegen „milder Verlauf“
Auch leichte Erkrankungen können Omikron-Patienten für Tage schachmatt setzen. Sofern sie geimpft sind, haben sie einen Long-Covid-Verlauf nur selten zu befürchten – allerdings mit einer wichtigen Ausnahme.
Den wissenschaftlichen Umgang mit dem Coronavirus hat man sich wie einen Neubau vorzustellen, der bereits bei der Eröffnung viel zu klein ist. Immer wieder neue Ergebnisse kommen hinzu, die alte Gewissheiten ergänzen, infrage stellen oder als überholt deklarieren. Fortwährend muss man anbauen.
Vorläufigkeit im Erkenntnisprozess ist allerdings ohnedies die Grundhaltung seriöser Wissenschaft. An den Impfstoffen haben wir das gleichsam live mitverfolgen können. Die ursprüngliche Annahme, dass ein Vakzin auch eine sterile Immunität bewirken würde, musste korrigiert werden: Geimpfte können trotzdem erkranken und auch andere anstecken. Sie landen allerdings kaum noch auf einer Intensivstation und werden nur in Ausnahmefällen noch intubiert und beatmet.
Die Frage ist: Hat Omikron dieses System verändert? Werden Infizierte noch intensivpflichtig, oder kommen sie im ungünstigen Fall „nur“auf die Isolierstation? Wird man von Omikron unter dem Motto der „milden Verläufe“sprechen?
Könnte sein, dass diese scheinbare Harmlosigkeit von vielen Leuten unterschätzt wird – vor allem von denen, die Covid noch nicht hatten. Denn etliche Menschen, die derzeit mit Omikron infiziert sind oder es waren, liegen darnieder wie tote Fliegen. Sie klagen über Kopfund Gliederschmerzen, über Halskratzen, starken Schnupfen, quälenden Husten und anschließende Heiserkeit; mitunter haben sie über Tage hohes Fieber. Vor allem verspüren sie eine Mattigkeit, die sie fast sarkastisch sagen lässt: „Das soll ein milder Verlauf sein?“Andererseits gibt es Menschen, die überhaupt nichts oder nur eine kleine Erkältung verspüren. Kann sein, dass sie auch nur wenig Viren abbekommen haben. Derzeit laufen mehrere Studien, die genau dieser Frage nachgehen, wer wann wie stark erkrankt.
Tatsächlich hat die Infektionsmedizin eine Mauer eingezogen, die milde und nicht milde Verläufe trennt: die Lungenentzündung. Das liegt nahe. Omikron hat nämlich – sofern nicht wieder neue Erkenntnisse eintreffen – die Eigenschaft, sich vor allem in den oberen Atemwegen einzunisten und zu vervielfältigen. Die Lunge wird kaum erreicht. „Überhaupt sind innere Organe bei Omikron nur höchst selten betroffen“, sagt Huan N. Nguyen, internistischer Chefarzt an den Städtischen Kliniken in Mönchengladbach, „das war bei früheren Varianten wie etwa Delta ganz anders.“
Das bedeutet für Betroffene: Was sie als schweres Krankheitsbild empfinden, gilt in der Medizin als „milder Verlauf“. Auf der anderen Seite der Mauer sähe es allerdings schwieriger aus, weil dann typische Medikamente wie Dexamethason und eine Sauerstofftherapie – in welcher Form auch immer – zum Einsatz kommen. Diesen bereits komplizierteren Verlauf erleidet bei Omikron fast nur noch, wer mindestens eins dieser Kriterien erfüllt: ungeimpft, mit Risikofaktoren, vorerkrankt.
Tatsächlich müssen etwa Menschen mit koronarer Herzkrankheit aufpassen, dass sie sich nicht mit Omikron infizieren. Das Coronavirus ist auch für sogenannte thromboembolische Folgen verantwortlich, also die Bildung von Blutgerinnseln. Wenn dann ein plötzlicher Herzschmerz auf einen Infarkt hinweist, kann eine gleichzeitige Omikron-Infektion das Risiko für einen ungünstigen Verlauf deutlich erhöhen. Ebenso müssen Menschen mit Immunschwäche etwa nach einer Organtransplantation eine Ansteckung ebenso fürchten wie solche, die Krebs haben. Bei ihnen bleibt die Viruslast nicht selten über Wochen oder gar Monate so hoch, dass die Therapie deshalb unterbrochen werden muss.
Omikron ist noch nicht allzu lange die führende Variante, deswegen lassen sich noch keine klaren epidemiologischen Angaben machen, wer nach einer Infektion eine Krankheitsnachlast in Form von Long Covid oder Post Covid entwickelt. Diese Begriffe werden häufig bunt gemischt und sogar vertauscht. Long Covid ist die allgemeine Formel für alle Symptome, die länger als vier Wochen nach der Infektion und der Akutphase anhalten oder wieder neu auftreten. Die erste Phase danach nennt man subakut (vier bis zwölf Wochen nach der Infektion). Alles danach fällt unter Post Covid.
Die Impfung wirkt sich bei Omikron jedoch auch in diesem Segment positiv aus, sagt Chefarzt Nguyen. „Wir sehen Long Covid momentan längst nicht mehr so oft, weil eben bereits viel mehr Menschen als noch vor einem Jahr geimpft sind.“Über Long Covid bei Ungeimpften gebe es, was Omikron betrifft, allerdings noch keine belastbaren Daten.
Aus der Welt ist das Thema Long Covid sowieso nicht, denn neue Daten zeigen, dass sich die Fernwirkung einer Infektion mit dem Coronavirus egal welcher Variante auch noch in anderen Organsystemen äußern kann. Wissenschaftler unter Leitung von Wolfgang Rathmann vom Deutschen Diabetes Zentrum in Düsseldorf haben erforscht, ob ein Typ-2-Diabetes als Covid-Folgeerkrankung auftreten kann. Sie analysierten den Gesundheitszustand von mehr als 70.000 Patienten, die in einer deutschen Arztpraxis in Behandlung waren, und sortierten sie zwei Gruppen zu. Während die erste Gruppe bereits mit Corona infiziert war, hatte die zweite ebenfalls kürzlich eine andere Atemwegs-Virusinfektion erlitten.
Huan N. Nguyen Internist
Es stellte sich heraus, dass nach einer Corona-Infektion deutlich mehr zuvor gesunde Menschen einen Typ-2-Diabetes hatten als nach einer anderen Erkältungskrankheit. Das Risiko war um 28 Prozent höher. Auffällig in der Sub-Analyse: Die untersuchten Corona-Infizierten wiesen einen eher leichten Covid19-Verlauf auf. Das heißt: Man kann Post-Covid-Symptome bekommen, auch wenn die Erstbegegnung mit dem Coronavirus eher glimpflich verlief. Ob die Diabetes-Spätlast auch bei Omikron auftreten kann, wird sich noch zeigen.
Allerdings gilt auch für genesene Omikron-Patienten, dass sie sich etwa bei Sport vorerst schonen sollten. Die Fälle sind mittlerweile gut dokumentiert, dass Sportler, die nach einer Corona-Infektion zu schnell wieder in Schwung geraten wollten, plötzlich eine Myokarditis (Herzmuskelentzündung) hatten. Diese unerwünschte Folge gibt es auch bei Omikron.
Eine weitere Studie, diesmal aus dem Universitätsklinikum in Hamburg-Eppendorf (UKE), kam ebenfalls zu Langfrist-Daten. Sie betreffen nun allerdings die Leber. Längst bekannt ist, dass Covid-Patienten mitunter auffällige Leberwerte aufweisen, auch wenn sie zuvor gesund waren. Pathologen stellten nach Autopsien bei 45 an Covid verstorbenen Menschen fest, dass bei zwei Dritteln von ihnen der Erreger nicht nur in Herz, Lunge und Nieren, sondern auch in der Leber nachgewiesen werden konnte, teilweise sogar noch in aktivem Zustand.
Die Hamburger Experten halten es – diese Hypothese stellen sie in ihrer Studie auf – für denkbar, dass eine Sars-Cov-2-Infektion die Zellprogramme in der Leber deutlich verändern und damit Auswirkungen auf den Stoffwechsel haben könne, ähnlich wie bei einer Hepatitis. „Diese Ergebnisse unterstreichen erneut, wie vielfältig die potenziellen Schädigungsmechanismen bei Covid-19 sind“, sagte Studienleiter Tobias Huber, Direktor der Medizinischen Klinik und Poliklinik am Universitätsklinikum Eppendorf, gegenüber dem „Spiegel“. Es sei möglich, dass es in den kommenden Jahren und Jahrzehnten vermehrt Covid-19-Folgeerkrankungen in Organen wie Leber und Nieren geben werde.
Natürlich muss das alles auch gar nicht in dramatischer Form eintreten. Doch Ärzte wissen jedenfalls künftig, woran sie bei bedenklichen Blutbild-Veränderungen ihrer Patienten oder bei auffälligen ErstAnamnesen denken müssen: War da mal was mit Corona?
„Innere Organe sind bei Omikron höchst selten betroffen“