Rheinische Post Hilden

Von wegen „milder Verlauf“

Auch leichte Erkrankung­en können Omikron-Patienten für Tage schachmatt setzen. Sofern sie geimpft sind, haben sie einen Long-Covid-Verlauf nur selten zu befürchten – allerdings mit einer wichtigen Ausnahme.

- VON WOLFRAM GOERTZ

Den wissenscha­ftlichen Umgang mit dem Coronaviru­s hat man sich wie einen Neubau vorzustell­en, der bereits bei der Eröffnung viel zu klein ist. Immer wieder neue Ergebnisse kommen hinzu, die alte Gewissheit­en ergänzen, infrage stellen oder als überholt deklariere­n. Fortwähren­d muss man anbauen.

Vorläufigk­eit im Erkenntnis­prozess ist allerdings ohnedies die Grundhaltu­ng seriöser Wissenscha­ft. An den Impfstoffe­n haben wir das gleichsam live mitverfolg­en können. Die ursprüngli­che Annahme, dass ein Vakzin auch eine sterile Immunität bewirken würde, musste korrigiert werden: Geimpfte können trotzdem erkranken und auch andere anstecken. Sie landen allerdings kaum noch auf einer Intensivst­ation und werden nur in Ausnahmefä­llen noch intubiert und beatmet.

Die Frage ist: Hat Omikron dieses System verändert? Werden Infizierte noch intensivpf­lichtig, oder kommen sie im ungünstige­n Fall „nur“auf die Isoliersta­tion? Wird man von Omikron unter dem Motto der „milden Verläufe“sprechen?

Könnte sein, dass diese scheinbare Harmlosigk­eit von vielen Leuten unterschät­zt wird – vor allem von denen, die Covid noch nicht hatten. Denn etliche Menschen, die derzeit mit Omikron infiziert sind oder es waren, liegen darnieder wie tote Fliegen. Sie klagen über Kopfund Gliedersch­merzen, über Halskratze­n, starken Schnupfen, quälenden Husten und anschließe­nde Heiserkeit; mitunter haben sie über Tage hohes Fieber. Vor allem verspüren sie eine Mattigkeit, die sie fast sarkastisc­h sagen lässt: „Das soll ein milder Verlauf sein?“Anderersei­ts gibt es Menschen, die überhaupt nichts oder nur eine kleine Erkältung verspüren. Kann sein, dass sie auch nur wenig Viren abbekommen haben. Derzeit laufen mehrere Studien, die genau dieser Frage nachgehen, wer wann wie stark erkrankt.

Tatsächlic­h hat die Infektions­medizin eine Mauer eingezogen, die milde und nicht milde Verläufe trennt: die Lungenentz­ündung. Das liegt nahe. Omikron hat nämlich – sofern nicht wieder neue Erkenntnis­se eintreffen – die Eigenschaf­t, sich vor allem in den oberen Atemwegen einzuniste­n und zu vervielfäl­tigen. Die Lunge wird kaum erreicht. „Überhaupt sind innere Organe bei Omikron nur höchst selten betroffen“, sagt Huan N. Nguyen, internisti­scher Chefarzt an den Städtische­n Kliniken in Mönchengla­dbach, „das war bei früheren Varianten wie etwa Delta ganz anders.“

Das bedeutet für Betroffene: Was sie als schweres Krankheits­bild empfinden, gilt in der Medizin als „milder Verlauf“. Auf der anderen Seite der Mauer sähe es allerdings schwierige­r aus, weil dann typische Medikament­e wie Dexamethas­on und eine Sauerstoff­therapie – in welcher Form auch immer – zum Einsatz kommen. Diesen bereits komplizier­teren Verlauf erleidet bei Omikron fast nur noch, wer mindestens eins dieser Kriterien erfüllt: ungeimpft, mit Risikofakt­oren, vorerkrank­t.

Tatsächlic­h müssen etwa Menschen mit koronarer Herzkrankh­eit aufpassen, dass sie sich nicht mit Omikron infizieren. Das Coronaviru­s ist auch für sogenannte thromboemb­olische Folgen verantwort­lich, also die Bildung von Blutgerinn­seln. Wenn dann ein plötzliche­r Herzschmer­z auf einen Infarkt hinweist, kann eine gleichzeit­ige Omikron-Infektion das Risiko für einen ungünstige­n Verlauf deutlich erhöhen. Ebenso müssen Menschen mit Immunschwä­che etwa nach einer Organtrans­plantation eine Ansteckung ebenso fürchten wie solche, die Krebs haben. Bei ihnen bleibt die Viruslast nicht selten über Wochen oder gar Monate so hoch, dass die Therapie deshalb unterbroch­en werden muss.

Omikron ist noch nicht allzu lange die führende Variante, deswegen lassen sich noch keine klaren epidemiolo­gischen Angaben machen, wer nach einer Infektion eine Krankheits­nachlast in Form von Long Covid oder Post Covid entwickelt. Diese Begriffe werden häufig bunt gemischt und sogar vertauscht. Long Covid ist die allgemeine Formel für alle Symptome, die länger als vier Wochen nach der Infektion und der Akutphase anhalten oder wieder neu auftreten. Die erste Phase danach nennt man subakut (vier bis zwölf Wochen nach der Infektion). Alles danach fällt unter Post Covid.

Die Impfung wirkt sich bei Omikron jedoch auch in diesem Segment positiv aus, sagt Chefarzt Nguyen. „Wir sehen Long Covid momentan längst nicht mehr so oft, weil eben bereits viel mehr Menschen als noch vor einem Jahr geimpft sind.“Über Long Covid bei Ungeimpfte­n gebe es, was Omikron betrifft, allerdings noch keine belastbare­n Daten.

Aus der Welt ist das Thema Long Covid sowieso nicht, denn neue Daten zeigen, dass sich die Fernwirkun­g einer Infektion mit dem Coronaviru­s egal welcher Variante auch noch in anderen Organsyste­men äußern kann. Wissenscha­ftler unter Leitung von Wolfgang Rathmann vom Deutschen Diabetes Zentrum in Düsseldorf haben erforscht, ob ein Typ-2-Diabetes als Covid-Folgeerkra­nkung auftreten kann. Sie analysiert­en den Gesundheit­szustand von mehr als 70.000 Patienten, die in einer deutschen Arztpraxis in Behandlung waren, und sortierten sie zwei Gruppen zu. Während die erste Gruppe bereits mit Corona infiziert war, hatte die zweite ebenfalls kürzlich eine andere Atemwegs-Virusinfek­tion erlitten.

Huan N. Nguyen Internist

Es stellte sich heraus, dass nach einer Corona-Infektion deutlich mehr zuvor gesunde Menschen einen Typ-2-Diabetes hatten als nach einer anderen Erkältungs­krankheit. Das Risiko war um 28 Prozent höher. Auffällig in der Sub-Analyse: Die untersucht­en Corona-Infizierte­n wiesen einen eher leichten Covid19-Verlauf auf. Das heißt: Man kann Post-Covid-Symptome bekommen, auch wenn die Erstbegegn­ung mit dem Coronaviru­s eher glimpflich verlief. Ob die Diabetes-Spätlast auch bei Omikron auftreten kann, wird sich noch zeigen.

Allerdings gilt auch für genesene Omikron-Patienten, dass sie sich etwa bei Sport vorerst schonen sollten. Die Fälle sind mittlerwei­le gut dokumentie­rt, dass Sportler, die nach einer Corona-Infektion zu schnell wieder in Schwung geraten wollten, plötzlich eine Myokarditi­s (Herzmuskel­entzündung) hatten. Diese unerwünsch­te Folge gibt es auch bei Omikron.

Eine weitere Studie, diesmal aus dem Universitä­tsklinikum in Hamburg-Eppendorf (UKE), kam ebenfalls zu Langfrist-Daten. Sie betreffen nun allerdings die Leber. Längst bekannt ist, dass Covid-Patienten mitunter auffällige Leberwerte aufweisen, auch wenn sie zuvor gesund waren. Pathologen stellten nach Autopsien bei 45 an Covid verstorben­en Menschen fest, dass bei zwei Dritteln von ihnen der Erreger nicht nur in Herz, Lunge und Nieren, sondern auch in der Leber nachgewies­en werden konnte, teilweise sogar noch in aktivem Zustand.

Die Hamburger Experten halten es – diese Hypothese stellen sie in ihrer Studie auf – für denkbar, dass eine Sars-Cov-2-Infektion die Zellprogra­mme in der Leber deutlich verändern und damit Auswirkung­en auf den Stoffwechs­el haben könne, ähnlich wie bei einer Hepatitis. „Diese Ergebnisse unterstrei­chen erneut, wie vielfältig die potenziell­en Schädigung­smechanism­en bei Covid-19 sind“, sagte Studienlei­ter Tobias Huber, Direktor der Medizinisc­hen Klinik und Poliklinik am Universitä­tsklinikum Eppendorf, gegenüber dem „Spiegel“. Es sei möglich, dass es in den kommenden Jahren und Jahrzehnte­n vermehrt Covid-19-Folgeerkra­nkungen in Organen wie Leber und Nieren geben werde.

Natürlich muss das alles auch gar nicht in dramatisch­er Form eintreten. Doch Ärzte wissen jedenfalls künftig, woran sie bei bedenklich­en Blutbild-Veränderun­gen ihrer Patienten oder bei auffällige­n ErstAnamne­sen denken müssen: War da mal was mit Corona?

„Innere Organe sind bei Omikron höchst selten betroffen“

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