Größte Not in Mariupol
Während russische Truppen die Angriffe im Osten des Landes ausweiten, steigt die Zahl der zivilen Todesopfer. Die Ukraine wirft Putin vor, Hunger als Waffe einzusetzen.
KIEW/MARIUPOL/CHARKIW/DÜSSELDORF In der ukrainischen Hauptstadt Kiew sind nach Angaben der Stadtverwaltung seit Kriegsbeginn 89 Zivilisten getötet worden, darunter vier Kinder. 398 Einwohner wurden verletzt, 20 von ihnen sind noch minderjährig. 167 Wohngebäude seien beschädigt worden, außerdem 44 Schulen, 26 Kindergärten und ein Waisenhaus. Im Gebiet rund um Kiew waren am Wochenende nach dem Abzug russischer Truppen die Leichen von 410 Zivilisten entdeckt worden.
In Hostomel nahe der Hauptstadt wurden am Mittwoch nach Aussage der ukrainischen MenschenrechtsOmbudsfrau Ljudmyla Denissowa mehr als 400 Bewohner vermisst. „Augenzeugen sagen, dass einige getötet wurden, aber wo sie sind, ist weiter unbekannt“, sagte sie. Der Ort war 35 Tage lang von russischen Soldaten besetzt. Denissowa legte keine Belege für ihre Darstellung vor. Eine Stellungnahme Russlands gibt es nicht.
Die russischen Truppen weiten unterdessen ihre Angriffe aus. Mariupol im Südosten lag unter schwerem Artilleriefeuer. Die humanitäre Lage dort verschlechtere sich weiter, teilte das britische Verteidigungsministerium mit. Dort säßen noch 160.000 Menschen fest – ohne Licht, Kommunikationsmöglichkeiten, Medizin, Heizung oder Wasser. Versuche, sie zu erreichen oder in Sicherheit zu bringen, waren immer wieder gescheitert. Der Bürgermeister Mariupols hat Russland vorgeworfen, zur Vertuschung von Kriegsverbrechen Leichen in mobilen Krematorien zu verbrennen.
Ukrainische Behörden riefen die Bewohner des Bezirks Luhansk im Osten des Landes auf, die Region zu verlassen, solange das noch möglich sei. In Siewierodonezk nordwestlich der Stadt standen nach russischem Beschuss zehn Hochhäuser in Flammen, teilte der Bezirksgouverneur von Luhansk mit. Das ukrainische Militär erwartet im Donbass, der neben Luhansk auch den Bezirk Donezk umfasst, einen Großangriff der russischen Armee. Auch die ostukrainische Großstadt Charkiw ist nach Behördenangaben in der Nacht zu Mittwoch wieder Ziel von Attacken der russischen Streitkräfte gewesen. Es habe 27 Angriffe auf die zweitgrößte Stadt des Landes gegeben, schrieb der Gouverneur des Gebiets, Oleh Synjehubow. Das russische Verteidigungsministerium gab einem Medienbericht zufolge an, ein ukrainisches Treibstofflager in der Region zerstört zu haben.
Russland meldete zudem einen Angriff auf Grenztruppen in der an den Norden der Ukraine angrenzenden Region Kursk. Ukrainische Einheiten hätten mit Mörsergranaten das Feuer auf einen Grenzposten in Sudschanski eröffnet, teilte der Kursker Gouverneur Roman Starowoitz mit. Die Ukraine bestritt einen Angriff auf russisches Gebiet.
Der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj warf Russland vor, Hunger als Waffe einzusetzen. Die russischen Streitkräfte griffen gezielt die Versorgung mit Nahrungsmitteln an, sagte er am Mittwoch in einer Videoansprache an das irische Parlament. Zerstört würden unter anderem Lebensmittellager, während Häfen blockiert würden.
Bei den Friedensgesprächen der beiden Länder gibt es weiterhin keine Fortschritte. Der Prozess komme nicht so schnell und energisch voran, wie Russland sich das wünsche, sagte der russische Präsidialamtssprecher
Dmitri Peskow. Es werde daran gearbeitet, eine neue Gesprächsrunde zusammenzubekommen. Aber bis Fortschritte erzielt würden, sei es noch ein langer Weg.
Die Führung in Moskau hat nach russischen Angaben derzeit keinen Kontakt zur Nato. Russland habe im Moment nichts mit dem transatlantischen
Militärbündnis zu besprechen, erklärte Vize-Außenminister Alexander Gruschko. Die Führung in Moskau wolle aber an ihren diplomatischen Beziehungen zum Westen festhalten. Die Nato rechnet offenbar nicht mit einem schnellen Ende des Krieges. Generalsekretär Jens Stoltenberg sagte am Mittwoch am Rande eines Treffens der 30 Außenminister der Bündnisstaaten in Brüssel, man müsse sich bewusst darüber werden, dass der Krieg noch „viele Monate oder sogar Jahre“andauern könne.
EU-Ratspräsident Charles Michel hat die EU-Staaten aufgerufen, auch über Asylmöglichkeiten für von den Schlachtfeldern in der Ukraine desertierte russische Soldaten nachzudenken. Diese rief er ausdrücklich dazu auf, Befehle zu missachten und weiteres Blutvergießen zu vermeiden. (ap/dpa/epd/rtr)