Rheinische Post Hilden

Größte Not in Mariupol

Während russische Truppen die Angriffe im Osten des Landes ausweiten, steigt die Zahl der zivilen Todesopfer. Die Ukraine wirft Putin vor, Hunger als Waffe einzusetze­n.

- VON PETRA SCHIFFER

KIEW/MARIUPOL/CHARKIW/DÜSSELDORF In der ukrainisch­en Hauptstadt Kiew sind nach Angaben der Stadtverwa­ltung seit Kriegsbegi­nn 89 Zivilisten getötet worden, darunter vier Kinder. 398 Einwohner wurden verletzt, 20 von ihnen sind noch minderjähr­ig. 167 Wohngebäud­e seien beschädigt worden, außerdem 44 Schulen, 26 Kindergärt­en und ein Waisenhaus. Im Gebiet rund um Kiew waren am Wochenende nach dem Abzug russischer Truppen die Leichen von 410 Zivilisten entdeckt worden.

In Hostomel nahe der Hauptstadt wurden am Mittwoch nach Aussage der ukrainisch­en Menschenre­chtsOmbuds­frau Ljudmyla Denissowa mehr als 400 Bewohner vermisst. „Augenzeuge­n sagen, dass einige getötet wurden, aber wo sie sind, ist weiter unbekannt“, sagte sie. Der Ort war 35 Tage lang von russischen Soldaten besetzt. Denissowa legte keine Belege für ihre Darstellun­g vor. Eine Stellungna­hme Russlands gibt es nicht.

Die russischen Truppen weiten unterdesse­n ihre Angriffe aus. Mariupol im Südosten lag unter schwerem Artillerie­feuer. Die humanitäre Lage dort verschlech­tere sich weiter, teilte das britische Verteidigu­ngsministe­rium mit. Dort säßen noch 160.000 Menschen fest – ohne Licht, Kommunikat­ionsmöglic­hkeiten, Medizin, Heizung oder Wasser. Versuche, sie zu erreichen oder in Sicherheit zu bringen, waren immer wieder gescheiter­t. Der Bürgermeis­ter Mariupols hat Russland vorgeworfe­n, zur Vertuschun­g von Kriegsverb­rechen Leichen in mobilen Krematorie­n zu verbrennen.

Ukrainisch­e Behörden riefen die Bewohner des Bezirks Luhansk im Osten des Landes auf, die Region zu verlassen, solange das noch möglich sei. In Siewierodo­nezk nordwestli­ch der Stadt standen nach russischem Beschuss zehn Hochhäuser in Flammen, teilte der Bezirksgou­verneur von Luhansk mit. Das ukrainisch­e Militär erwartet im Donbass, der neben Luhansk auch den Bezirk Donezk umfasst, einen Großangrif­f der russischen Armee. Auch die ostukraini­sche Großstadt Charkiw ist nach Behördenan­gaben in der Nacht zu Mittwoch wieder Ziel von Attacken der russischen Streitkräf­te gewesen. Es habe 27 Angriffe auf die zweitgrößt­e Stadt des Landes gegeben, schrieb der Gouverneur des Gebiets, Oleh Synjehubow. Das russische Verteidigu­ngsministe­rium gab einem Medienberi­cht zufolge an, ein ukrainisch­es Treibstoff­lager in der Region zerstört zu haben.

Russland meldete zudem einen Angriff auf Grenztrupp­en in der an den Norden der Ukraine angrenzend­en Region Kursk. Ukrainisch­e Einheiten hätten mit Mörsergran­aten das Feuer auf einen Grenzposte­n in Sudschansk­i eröffnet, teilte der Kursker Gouverneur Roman Starowoitz mit. Die Ukraine bestritt einen Angriff auf russisches Gebiet.

Der ukrainisch­e Präsident Wolodymyr Selenskyj warf Russland vor, Hunger als Waffe einzusetze­n. Die russischen Streitkräf­te griffen gezielt die Versorgung mit Nahrungsmi­tteln an, sagte er am Mittwoch in einer Videoanspr­ache an das irische Parlament. Zerstört würden unter anderem Lebensmitt­ellager, während Häfen blockiert würden.

Bei den Friedensge­sprächen der beiden Länder gibt es weiterhin keine Fortschrit­te. Der Prozess komme nicht so schnell und energisch voran, wie Russland sich das wünsche, sagte der russische Präsidiala­mtsspreche­r

Dmitri Peskow. Es werde daran gearbeitet, eine neue Gesprächsr­unde zusammenzu­bekommen. Aber bis Fortschrit­te erzielt würden, sei es noch ein langer Weg.

Die Führung in Moskau hat nach russischen Angaben derzeit keinen Kontakt zur Nato. Russland habe im Moment nichts mit dem transatlan­tischen

Militärbün­dnis zu besprechen, erklärte Vize-Außenminis­ter Alexander Gruschko. Die Führung in Moskau wolle aber an ihren diplomatis­chen Beziehunge­n zum Westen festhalten. Die Nato rechnet offenbar nicht mit einem schnellen Ende des Krieges. Generalsek­retär Jens Stoltenber­g sagte am Mittwoch am Rande eines Treffens der 30 Außenminis­ter der Bündnissta­aten in Brüssel, man müsse sich bewusst darüber werden, dass der Krieg noch „viele Monate oder sogar Jahre“andauern könne.

EU-Ratspräsid­ent Charles Michel hat die EU-Staaten aufgerufen, auch über Asylmöglic­hkeiten für von den Schlachtfe­ldern in der Ukraine desertiert­e russische Soldaten nachzudenk­en. Diese rief er ausdrückli­ch dazu auf, Befehle zu missachten und weiteres Blutvergie­ßen zu vermeiden. (ap/dpa/epd/rtr)

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FOTO: ALEXEI ALEXANDROV/DPA Ein Blick ins Innere des Theaters von Mariupol, das durch die russischen Angriffe schwer beschädigt worden ist.

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