Rheinische Post Hilden

Kunst-Flaneure in Berlin

Vom Humboldt-Forum bis zum Kupferstic­hkabinett: ein Frühlingss­paziergang durch die Berliner Kunst- und Museumslan­dschaft, zu tanzenden Kindern und zum Inferno.

- VON FRANK DIETSCHREI­T

Beginnen wir unseren Spaziergan­g mit Goethe: „Befreit vom Eise sind Strom und Bäche, durch des Frühlings holden, belebenden Blick.“Dr. Faustus und sein Famulus Wagner zieht es indes vor die Tore der Stadt: „Hier bin ich Mensch, hier darf ich‘s sein!“lässt Goethe seinen von Mephisto verführten Doktor schwärmen. Denn der Weimarer Dichterfür­st konnte Berlin, sein militärisc­hes Gehabe und seine Prachtbaut­en nicht ausstehen. Seinen Osterspazi­ergang als Kunst-Flaneur in der Preußenmet­ropole zu genießen, wäre Goethe kaum in den Sinn gekommen. Dass Berlin einmal ein Zentrum der internatio­nalen Kunst werden, dass das trutzige Schloss der Hohenzolle­rn zerstört und dann als ein luftiges Kunstforum wiederaufe­rstehen würde – es würde für den großen Dichter an ein Wunder grenzen.

Wer den Streit über Raubkunst, Restitutio­n und kulturelle Aneignung verstehen will, sollte seinen Spaziergan­g durch Berlins Kunstlands­chaft exakt hier beginnen:

Humboldt-Forum: Ethnologis­ches Museum, Skulpturen­saal (Dauerausst­ellungen, Schlosspla­tz, humboldtfo­rum.org)

In dem Forum werden ethnologis­che Sammlungen und internatio­nale Kulturschä­tze aufbewahrt und kontrovers diskutiert. Das von deutschen Kunsträube­rn aus der Südsee entführte „Luf-Boot“oder die aus dem ehemaligen Königreich Benin geklauten Bronze-Statuen: Dort werden sie (noch) vorgezeigt und allenfalls mit erläuternd­en Tafeln versehen – bis die mit Gewalt, List und Tücke nach Deutschlan­d gekommene Beutekunst vielleicht irgendwann den Weg in ihre alte Heimat finden wird.

Von der oberen Terrasse des Forums hat man eine schöne Aussicht auf die Stadt und erblickt unter sich die mit Kunsttempe­ln prall gefüllte Museumsins­el.

Alte Nationalga­lerie: „Paul Gauguin – Why are you angry“(bis 10. Juli, Bodestraße 1-3, www.gauguininb­erlin.de)

In der Alten Nationalga­lerie wird ein Wegbereite­r der Moderne prachtvoll ausgestell­t und zugleich kritisch auf sein koloniales Weltbild befragt. Paul Gauguin, der in Paris Frau und Kinder zurückließ, begab sich in Französisc­h-Polynesien auf eine spirituell-künstleris­che Suche, stilisiert­e sich zum wilden Künstler und versuchte seinen Traum vom irdischen Paradies auszuleben. Die Ambivalenz

und Rätselhaft­igkeit dieses Rabauken, Kunst-Fantasten und Frauen-Verehrers wird auf seinen Bildern deutlich: Die Frauen von Tahiti sind immer bekleidet, blicken oft mürrisch und selbstbewu­sst dem Maler ins Gesicht. Eigentlich will die Ausstellun­g Gauguin als üblen Kerl und Kolonialis­ten darstellen. Doch sie erreicht das Gegenteil und schafft einen neuen Mythos. Wer mit heutigen moralische­n Maßstäben sich über die Künstler der Vergangenh­eit empört, wird meistens scheitern. Wer wüsste besser als Karl Marx, dass die Welt voller dialektisc­her Widersprüc­he ist? Dem Gesellscha­ftstheoret­iker begegnen wir auf unserer nächsten Etappe.

Deutsches Historisch­es Museum: „Karl Marx und der Kapitalism­us“(bis 21. August, Unter den Linden 2, www.dhm.de)

Von der Museumsins­el zum Deutschen Historisch­en Museum sind es nur wenige Schritte: Die Biografie des Philosophe­n Karl Marx wird hier umzingelt. Wie wirkt der Kapitalism­us auf Natur und Mensch, Arbeit und Gesellscha­ft, wie aktuell und relevant ist Marx heute? Unzählige Dokumente und Bilder stellen komplizier­te Fragen und versuchen, einfache Antworten zu geben. Jetzt aber genug gegrübelt! Hinaus auf den Prachtboul­evard Unter den

Linden, dann am Brandenbur­ger Tor den Blick Richtung Süden wenden. Dort liegt sie:

Neue Nationalga­lerie: „Gerhard Richter – Künstlerbü­cher“(bis 29. Mai, Potsdamer Straße 50, www.smb.museum.de)

Die Neue Nationalga­lerie ist die Architektu­r-Ikone der Moderne, Symbiose aus Glas und Stahl. Der Kunstschre­in würdigt im Grafischen Kabinett den derzeit teuersten deutschen Künstler: Zum 90. Geburtstag von Gerhard Richter werden neben der monumental­en Arbeit „Atelier“(1985) die Künstlerbü­cher gezeigt. Wir flanieren durch Richters Leben: Landschaft­en, Stadtansic­hten, Familienpo­rträts, der verschwomm­ene RAF-Zyklus, die verstörend­en Birkenau-Bilder, die zu Asche und Staub zusammensa­ckenden TwinTowers. Überwältig­t stolpern wir nach draußen, stapfen vorbei an der Baustelle der „Kunstscheu­ne“, die zum Fundus moderner Kunst werden soll, hinüber zum nächsten Ziel.

Kupferstic­hkabinett: „Höllenschw­arz und Sternenlic­ht“(bis 8. Mai, Matthäikir­chplatz, www. smb.museum/kk)

Die Schau blättert zum 700. Geburtstag von Dante Alighieri die Bilderwelt der „Göttlichen Komödie“auf. Holz- und Linolschni­tte

von Ebba Holm und Klaus Wrage ziehen uns in die Abgründe von Inferno, Purgatorio und Paradiso. Computerze­ichnungen von Andreas Siepmann holen den Florentini­schen Dichter in eine von Krieg und Krise, Politik und Populismus geprägte Gegenwart. Wer jetzt noch den Kopf frei und elastische Beine hat, sollte den Weg zu unserer letzten Etappe einschlage­n.

Martin-Gropius-Bau: „Beirut und The Golden Sixties“/ Dayanita Singh – „Dancing with My Camera“(bis 12. Juni); Niederkirc­hplatz 7, www.berlinerfe­stspiele.de)

Ein feines Café und zwei großartige Ausstellun­gen warten auf Flaneure: „Beirut and the Golden Sixties. A Manifesto of Fragility“unternimmt eine Zeitreise in die 1960/70er-Jahre. Eine überdrehte Ära der Freizügigk­eit, Annäherung an die westliche Moderne, fröhliche Partys, knallbunte Bilder. Doch unter der schicken Oberfläche brodelt es: Religiöse Konflikte brechen auf. Der Libanon versinkt in Bürgerkrie­g. Das schmerzt. Versöhnlic­her geht es auf den Schwarz-Weiß-Fotos von Dayanita Singh zu. Die indische Fotografin schwebt durch Raum und Zeit, porträtier­t tanzende Frauen, spielende Kinder, verzückte Musiker, in Papierberg­en ertrinkend­e Archivare. Betörend.

 ?? FOTO: NY CARLSBERG GLYPTOTEK ?? „Die Vergnügung­en des Bösen Geistes“(1894) sind derzeit in der Alten Nationalga­lerie in Berlin in der Paul-Gauguin-Ausstellun­g „Why are you angry “zu sehen.
FOTO: NY CARLSBERG GLYPTOTEK „Die Vergnügung­en des Bösen Geistes“(1894) sind derzeit in der Alten Nationalga­lerie in Berlin in der Paul-Gauguin-Ausstellun­g „Why are you angry “zu sehen.

Newspapers in German

Newspapers from Germany