Kunst-Flaneure in Berlin
Vom Humboldt-Forum bis zum Kupferstichkabinett: ein Frühlingsspaziergang durch die Berliner Kunst- und Museumslandschaft, zu tanzenden Kindern und zum Inferno.
Beginnen wir unseren Spaziergang mit Goethe: „Befreit vom Eise sind Strom und Bäche, durch des Frühlings holden, belebenden Blick.“Dr. Faustus und sein Famulus Wagner zieht es indes vor die Tore der Stadt: „Hier bin ich Mensch, hier darf ich‘s sein!“lässt Goethe seinen von Mephisto verführten Doktor schwärmen. Denn der Weimarer Dichterfürst konnte Berlin, sein militärisches Gehabe und seine Prachtbauten nicht ausstehen. Seinen Osterspaziergang als Kunst-Flaneur in der Preußenmetropole zu genießen, wäre Goethe kaum in den Sinn gekommen. Dass Berlin einmal ein Zentrum der internationalen Kunst werden, dass das trutzige Schloss der Hohenzollern zerstört und dann als ein luftiges Kunstforum wiederauferstehen würde – es würde für den großen Dichter an ein Wunder grenzen.
Wer den Streit über Raubkunst, Restitution und kulturelle Aneignung verstehen will, sollte seinen Spaziergang durch Berlins Kunstlandschaft exakt hier beginnen:
Humboldt-Forum: Ethnologisches Museum, Skulpturensaal (Dauerausstellungen, Schlossplatz, humboldtforum.org)
In dem Forum werden ethnologische Sammlungen und internationale Kulturschätze aufbewahrt und kontrovers diskutiert. Das von deutschen Kunsträubern aus der Südsee entführte „Luf-Boot“oder die aus dem ehemaligen Königreich Benin geklauten Bronze-Statuen: Dort werden sie (noch) vorgezeigt und allenfalls mit erläuternden Tafeln versehen – bis die mit Gewalt, List und Tücke nach Deutschland gekommene Beutekunst vielleicht irgendwann den Weg in ihre alte Heimat finden wird.
Von der oberen Terrasse des Forums hat man eine schöne Aussicht auf die Stadt und erblickt unter sich die mit Kunsttempeln prall gefüllte Museumsinsel.
Alte Nationalgalerie: „Paul Gauguin – Why are you angry“(bis 10. Juli, Bodestraße 1-3, www.gauguininberlin.de)
In der Alten Nationalgalerie wird ein Wegbereiter der Moderne prachtvoll ausgestellt und zugleich kritisch auf sein koloniales Weltbild befragt. Paul Gauguin, der in Paris Frau und Kinder zurückließ, begab sich in Französisch-Polynesien auf eine spirituell-künstlerische Suche, stilisierte sich zum wilden Künstler und versuchte seinen Traum vom irdischen Paradies auszuleben. Die Ambivalenz
und Rätselhaftigkeit dieses Rabauken, Kunst-Fantasten und Frauen-Verehrers wird auf seinen Bildern deutlich: Die Frauen von Tahiti sind immer bekleidet, blicken oft mürrisch und selbstbewusst dem Maler ins Gesicht. Eigentlich will die Ausstellung Gauguin als üblen Kerl und Kolonialisten darstellen. Doch sie erreicht das Gegenteil und schafft einen neuen Mythos. Wer mit heutigen moralischen Maßstäben sich über die Künstler der Vergangenheit empört, wird meistens scheitern. Wer wüsste besser als Karl Marx, dass die Welt voller dialektischer Widersprüche ist? Dem Gesellschaftstheoretiker begegnen wir auf unserer nächsten Etappe.
Deutsches Historisches Museum: „Karl Marx und der Kapitalismus“(bis 21. August, Unter den Linden 2, www.dhm.de)
Von der Museumsinsel zum Deutschen Historischen Museum sind es nur wenige Schritte: Die Biografie des Philosophen Karl Marx wird hier umzingelt. Wie wirkt der Kapitalismus auf Natur und Mensch, Arbeit und Gesellschaft, wie aktuell und relevant ist Marx heute? Unzählige Dokumente und Bilder stellen komplizierte Fragen und versuchen, einfache Antworten zu geben. Jetzt aber genug gegrübelt! Hinaus auf den Prachtboulevard Unter den
Linden, dann am Brandenburger Tor den Blick Richtung Süden wenden. Dort liegt sie:
Neue Nationalgalerie: „Gerhard Richter – Künstlerbücher“(bis 29. Mai, Potsdamer Straße 50, www.smb.museum.de)
Die Neue Nationalgalerie ist die Architektur-Ikone der Moderne, Symbiose aus Glas und Stahl. Der Kunstschrein würdigt im Grafischen Kabinett den derzeit teuersten deutschen Künstler: Zum 90. Geburtstag von Gerhard Richter werden neben der monumentalen Arbeit „Atelier“(1985) die Künstlerbücher gezeigt. Wir flanieren durch Richters Leben: Landschaften, Stadtansichten, Familienporträts, der verschwommene RAF-Zyklus, die verstörenden Birkenau-Bilder, die zu Asche und Staub zusammensackenden TwinTowers. Überwältigt stolpern wir nach draußen, stapfen vorbei an der Baustelle der „Kunstscheune“, die zum Fundus moderner Kunst werden soll, hinüber zum nächsten Ziel.
Kupferstichkabinett: „Höllenschwarz und Sternenlicht“(bis 8. Mai, Matthäikirchplatz, www. smb.museum/kk)
Die Schau blättert zum 700. Geburtstag von Dante Alighieri die Bilderwelt der „Göttlichen Komödie“auf. Holz- und Linolschnitte
von Ebba Holm und Klaus Wrage ziehen uns in die Abgründe von Inferno, Purgatorio und Paradiso. Computerzeichnungen von Andreas Siepmann holen den Florentinischen Dichter in eine von Krieg und Krise, Politik und Populismus geprägte Gegenwart. Wer jetzt noch den Kopf frei und elastische Beine hat, sollte den Weg zu unserer letzten Etappe einschlagen.
Martin-Gropius-Bau: „Beirut und The Golden Sixties“/ Dayanita Singh – „Dancing with My Camera“(bis 12. Juni); Niederkirchplatz 7, www.berlinerfestspiele.de)
Ein feines Café und zwei großartige Ausstellungen warten auf Flaneure: „Beirut and the Golden Sixties. A Manifesto of Fragility“unternimmt eine Zeitreise in die 1960/70er-Jahre. Eine überdrehte Ära der Freizügigkeit, Annäherung an die westliche Moderne, fröhliche Partys, knallbunte Bilder. Doch unter der schicken Oberfläche brodelt es: Religiöse Konflikte brechen auf. Der Libanon versinkt in Bürgerkrieg. Das schmerzt. Versöhnlicher geht es auf den Schwarz-Weiß-Fotos von Dayanita Singh zu. Die indische Fotografin schwebt durch Raum und Zeit, porträtiert tanzende Frauen, spielende Kinder, verzückte Musiker, in Papierbergen ertrinkende Archivare. Betörend.