Merkels Rollensuche
Die Bundeskanzlerin a. D. tastet sich in neue Aufgaben. Daraus lässt sich lernen.
Sie war am Meer. Allein. Hat Bücher gelesen, sich Bewegung verschafft, hat Hörbücher probiert: Shakespeares Macbeth auf die Ohren, die Tragödie von Aufstieg und Fall eines Herrschers, das gültige Stück über die Verführungskraft der Macht. In ihrem ersten Interview seit ihrem Abschied hat Angela Merkel recht frei über die zurückliegenden Monate gesprochen. Sie habe herausfinden wollen, ob sie ihre Tage gut herumbringe, ohne Politik, Termine, Regierungsentourage. Man kann auch sagen, sie hat herausfinden wollen, wer sie ist, was da von ihr übrig ist ohne Macht. Und sie hat getestet, ob sie mit diesem gehäuteten Ich Zeit verbringen kann, ohne sich zu langweilen. Sie habe herausfinden müssen, was das eigentlich ist, eine Bundeskanzlerin a. D., sagt sie. Angela Merkel hat einen Rollenwechsel vollzogen. Wie sie es tut, verrät viel darüber, was sie während ihrer Amtszeit vermisst hat: unverplante Zeit, Alleinesein, Selbstbestimmung. Sie hatte Nachholbedarf. Natürlich ist es Luxus, mit welchen Spielräumen sie nun ihren weiteren Weg gestaltet. Doch muss jeder, der nach vielen Jahren aus einem Berufsleben scheidet, Vorstellungen entwickeln von seinem Ich danach. Denn die Euphorie über den plötzlichen Wegfall früherer Verpflichtungen währt ja nur kurz. Und dann gilt es, den Ruhestand zu formen.
Von der Kanzlerin a. D. kann man sich Offenheit abschauen. Zumindest sagt sie, dass sie probieren wollte, wie sich das Neue so anfühlt. Und sie hat Unspektakuläres ausprobiert wie Hörbücher
hören, beweisen muss sie nichts mehr. Wirklich Loslassen wird sie aber noch nicht. Bundeskanzlerin a. D., sagt Merkel, sei eben auch nicht einfach Bürgerin. Nach den vielen Jahren an der Spitze der Regierung will sie immer noch eine Rolle spielen und vom Geleisteten zehren. Das beansprucht sie selbstbewusst. Viele, die aus hohen Positionen scheiden, müssen genau diese Neujustierung hinbekommen. Und sie wird schwieriger mit jedem Jahr Abstand zur alten Macht. Angela Merkel scheint gut gerüstet. Mit Shakespeare. Jedes Ding hat seine Zeit, wusste schon er.
Unsere Autorin ist Redakteurin des Ressorts Politik/Meinung. Sie wechselt sich hier mit unserem stellvertretenden Chefredakteur Horst Thoren ab.