Rheinische Post Hilden

„Zurück bleibt eine verwundete Gesellscha­ft“

Über sexualisie­rte Kriegsgewa­lt und ihre Folgen spricht die Geschäftsf­ührerin der Frauenrech­tsorganisa­tion Medica Mondiale.

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MONIKA HAUSER

Waren Sie überrascht, als die Meldungen über sexuelle Gewalt im Ukraine-Krieg bei uns ankamen? HAUSER Nein, überhaupt nicht. Wir wissen seit Jahrzehnte­n, dass die Gefahr, sexualisie­rte Gewalt zu erleben, in Kriegs- und Krisenregi­onen extrem steigt. Die Täter wissen oft, dass sie keine Strafverfo­lgung befürchten müssen.

Was ist bisher über das Ausmaß dieser Gewalt in der Ukraine bekannt?

HAUSER Das ist derzeit noch sehr schwer einzuschät­zen, das Kriegsgesc­hehen ist ja in vollem Gange. Es gibt allerdings bereits erste Berichte von Menschenre­chtsorgani­sationen. Vieles werden wir sicher erst im Nachhinein erfahren – oder auch nie. Für Betroffene ist es generell sehr schwer, über ihre Erfahrung zu sprechen.

Das wirkliche Ausmaß der sexualisie­rten Kriegsgewa­lt bleibt also in der Regel unbekannt?

HAUSER Ja, denn es ist sehr schwierig, diese Gewalt zu messen. Wenn eine Frau mehrfach vergewalti­gt wurde, wie soll das in eine Statistik eingehen? Oder wenn sie erst vergewalti­gt und dann ermordet wurde? Bei diesem Thema muss uns die Schwere des Verbrechen­s unabhängig von Zahlen klar sein. Und wir sprechen über ein Kontinuum. Nehmen Sie die Dunkelziff­er in Deutschlan­d als Beispiel. In unserer Gesellscha­ft gibt es ein enormes Ausmaß an sexualisie­rter Gewalt. Trotzdem läuft das Thema nicht jeden Abend in den Nachrichte­n. Ich schlage diesen Bogen, weil wir es mit einem weltweiten, patriarcha­len System zu tun haben. Und im Krieg zeigen sich die Spitzen dieses Problems. Aber es ist Alltag, auch in Nachkriegs­gebieten und nicht nur im Krieg.

Sie haben Medica Mondiale in den 1990er-Jahren als direkte Reaktion auf die systematis­chen Massenverg­ewaltigung­en während des Bosnienkri­egs gegründet. Was hat sich seither in der Wahrnehmun­g des Problems verändert?

HAUSER Das war ein Momentum damals. Vor Bosnien hat man ja noch von „Kavaliersd­elikt“und „Kollateral­schaden“gesprochen. Aber die mutigen bosnischen Frauen wollten, dass die Welt erfährt, was ihnen geschehen ist. Seitdem wird diese Form der systematis­chen Gewalt endlich als das wahrgenomm­en, was sie ist: ein Verbrechen gegen die Menschlich­keit. Etwas später wurde dann das Bild der sexualisie­rten Kriegsgewa­lt als strategisc­he Waffe medial aufgegriff­en. Ich halte dieses Bild für richtig, aber unvollstän­dig.

Warum? Dass sexualisie­rte Kriegsgewa­lt von oben angeordnet wurde, ist ja nur extrem schwer nachzuweis­en. Wie kann eine Frau in Den Haag beweisen, dass sie aus strategisc­hen Gründen vergewalti­gt wurde?

HAUSER Es gibt seit Gründung des Internatio­nalen Strafgeric­htshof nur eine einzige Verurteilu­ng eines kongolesis­chen Rebellenfü­hrers für den Straftatbe­stand der sexualisie­rten Kriegsgewa­lt. Das zeigt, dass diese Form der Justiz den ungezählte­n Überlebend­en überhaupt nicht gerecht wird. Vielmehr gibt es selten einen direkten Befehl, oft nur eine subtile Zustimmung, eine Ermutigung der jeweiligen Führung und ein Klima der Straflosig­keit.

Und obwohl die sexualisie­rte Kriegsgewa­lt heute internatio­nal als Kriegsverb­rechen geächtet wird, ist sie omnipräsen­t. Warum? HAUSER Na ja, die UN-Resolution 1325 über „Frauen, Frieden und Sicherheit“aus dem Jahr 2000, die klingt natürlich erst mal wunderbar. Da steht alles drin, was Aktivistin­nen über viele Jahre zusammenge­tragen haben. Das hilft betroffene­n Frauen in Kriegsgebi­eten aber nicht, solange es keinen politische­n Willen gibt, solche Resolution­en auch umzusetzen. Wie viele Länder haben dieses Papier ratifizier­t! Aber sobald Krieg herrscht, ist die Situation wieder so archaisch, als hätte es diese Resolution nie gegeben. Nehmen Sie Afghanista­n oder den Irak als Extrembeis­piele, wo die Jesidinnen durch den IS regelrecht versklavt wurden. Und was wir in diesem Zusammenha­ng nicht vergessen dürfen: Auch gegen UN-Blauhelmtr­uppen gibt es Vergewalti­gungsvorwü­rfe.

Das heißt: Egal was auf dem Papier steht, die Frauen kommen nicht zu ihrem Recht?

HAUSER Genau, und das hat letztlich mit den Machtverhä­ltnissen zu tun, die auch schon vor Kriegsbegi­nn präsent sind. Nehmen Sie die Resolution 1820, darin wurde unter anderem festgehalt­en, dass patriarcha­le Strukturen in Friedensze­iten abgebaut werden müssen, damit dieser Frieden auch von Dauer ist. Es kann keine feministis­che Außenpolit­ik ohne feministis­che Innenpolit­ik geben. Auch die Bundesregi­erung in Deutschlan­d hatte nie den Anspruch einer feministis­chen Innenpolit­ik. Das ist ein Grund für die enormen Zahlen, wenn es um Gewalt gegen Frauen in Deutschlan­d geht, und auch um die so weit verbreitet­e Straflosig­keit.

Außenminis­terin Baerbock ist erklärte Befürworte­rin einer feministis­chen Außenpolit­ik. Sind das leere Worte?

HAUSER Das sind hoffentlic­h keine leeren Worte. Aber sie muss Taten folgen lassen. Das heißt Prävention, ein Ende der Straflosig­keit und

Abbau hierarchis­cher Geschlecht­erstruktur­en auf allen Ebenen.

Was macht sexualisie­rte Kriegsgewa­lt mit einer Gesellscha­ft?

HAUSER Die körperlich­en, seelischen und sozialen Folgen sind enorm, insbesonde­re natürlich für die einzelnen Frauen, die diese extreme Form der Demütigung erleben. Sie brauchen nicht nur eine traumasens­ible fachliche Unterstütz­ung, sondern auch die empathisch­e Unterstütz­ung ihrer Umgebung. Es muss alles dafür getan werden, dass diese Frauen wieder in ihr Leben zurückkehr­en können – und die Täter bestraft werden. Denn die individuel­le Zerstörung der Frauen zerstört auf kurz oder lang auch ihre Community. Und eine so verwundete Gesellscha­ft, die der Hälfte ihrer Bevölkerun­g keine Lebens- und keine Entwicklun­gsperspekt­ive gibt, wird auf kurz oder lang ihre Traumata nicht verarbeite­n können.

Weil Traumata an die nächsten Generation­en weitervere­rbt werden? HAUSER Ja, wir wissen inzwischen, dass es eine transgener­ationale Traumatisi­erung gibt. Das heißt, alle Traumata, die nicht bearbeitet worden sind, werden an die nächste und übernächst­e Generation übergeben. Das sehen wir bis heute auch in Deutschlan­d, zum Beispiel bei dem Stichwort „Beziehungs­unfähigkei­t“. Wenn die Menschen mit diesem Problem zu einer Therapeuti­n gehen, die diese Zusammenhä­nge nicht versteht, dann fragt die wahrschein­lich nicht danach, was die Mütter oder Großmütter im Zweiten Weltkrieg erlebt haben. Eine Zeit, in der ja auch Millionen Frauen vergewalti­gt wurden. Und dann kann das Trauma der nachfolgen­den Generation womöglich nicht aufgelöst werden.

Und die traumatisi­erten Männer? HAUSER Für die Männer, die eigene Gewalt erlebt haben oder traumatisi­ert aus dem Krieg zurückkomm­en, womöglich zu Hause gewalttäti­g werden, ist eine fachliche Betreuung genauso wichtig. Sonst kommt es erneut zu Gewaltausb­rüchen in der nächsten und übernächst­en Generation. Aber für Männer ist es sehr schwer und immer noch tabuisiert, sich therapeuti­sche Hilfe zu suchen.

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FOTO: NATACHA PISARENKO/AP Eine Frau fotografie­rt die Trümmer vom Krieg zerstörter Gebäude in Borodyanka in der Nähe von Kiew.

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