Fast 1000 Geldautomaten gesprengt
Am Ende dieses Jahres könnte es so viele Explosionen gegeben haben wie noch nie zuvor in einem Jahr. Spitzenreiter ist dabei Köln, auch in den Niederlanden ist die Zahl hoch. Polizei und Staatsanwaltschaft gehen gegen die Täter vor.
DÜSSELDORF/AMSTERDAM Es war kurz nach 5 Uhr am Morgen des 14. März 2015, als drei maskierte Täter mit einer Gasflasche in den Vorraum der Sparkassenfiliale in Selfkant-Höngen im Kreis Heinsberg einbrachen und die Abdeckung des Geldautomaten aufhebelten. Dabei wurden sie von einem 34-Jährigen gestört, der über der Filiale wohnte. Daraufhin flüchteten die Täter mit einem schwarzen Audi Avant Richtung Niederlande; eine grenzüberschreitende Fahndung wurde eingeleitet.
Was an dem Tag noch niemand wissen konnte: Die Tat in Selfkant, dem westlichsten Zipfel NordrheinWestfalens an der Grenze zu den Niederlanden, markiert so etwas wie den Auftakt zu der beispiellosen Serie von Geldautomaten-Sprengungen, die bis heute NRW in Atem hält. Im Jahr 2015 zählte das Landeskriminalamt (LKA) insgesamt 67 Fälle in NRW; im Jahr zuvor hatte es lediglich vereinzelt solche Taten gegeben. „Man kann sagen, dass 2015 das Jahr war, wo es richtig damit losging. Davor gab es zwar auch Sprengungen, aber die lagen im unteren zweistelligen Bereich. Wenn man so will, sind die Täter aber dadurch vielleicht auf den Geschmack gekommen, weil sie gesehen haben, dass das für sie lukrativ ist“, heißt es aus Sicherheitskreisen.
Zwischen dem 14. März 2015 und dem 8. Juni 2022 hat es landesweit 927 Geldautomatensprengungen gegeben; den letzten erst am Mittwoch an einer Sparkasse in Roetgen bei Aachen. Das geht aus einer Auswertung des Landeskriminalamtes für unsere Redaktion hervor. Bei der Hälfte der Fälle blieb es in dem Zeitraum bei Versuchen (463). Die meisten Sprengungen gab es demnach im Jahr 2020 mit 176 Fällen. Im Jahr 2022 gab es bislang schon 94 solcher Delikte in NRW.
Demnach ist Köln die Stadt, in der insgesamt die meisten Sprengungen erfolgten, nämlich 41 seit 2015. Es folgen die Städte Duisburg (31), Neuss (29) und Bonn (26), Bochum (22), Mülheim an der Ruhr (22), Dortmund (21), Düsseldorf (18), Essen (18), Krefeld (16), Viersen (15), Aachen (14) und Wuppertal (14).
Zählt man die Zahl der Sprengungen nach Zuständigkeit der einzelnen Kreispolizeibehörden des Landes, ergibt sich ein etwas anderes Bild. Denn diese Auflistung erfasst nicht die Zahl der Sprengungen in einer einzelnen Stadt, sondern die des Einzugsraums der jeweiligen Polizeibehörde, also in der Regel des Landkreises samt aller Städte, in dem die Behörde sitzt. Demnach gab es im Rhein-Kreis Neuss mit 64 Sprengungen die meisten Fälle seit 2015. Es folgt das Polizeipräsidium Köln (in dem Fall mit Leverkusen) mit 48 Taten, die Städteregion Aachen (45), Kreis Kleve (44), Kreis Wesel (42), Essen/Oberhausen (40), Bonn (37), Kreis Heinsberg (36), Kreis Mettmann (36) und Bochum und der Kreis Viersen mit jeweils 34. „Die Sprengungen können aber überall und jederzeit im Land passieren. Die Täter orientieren sich bei der Wahl der Geldautomaten aber immer nach guten Fluchtmöglichkeiten, also einem guten Autobahnnetz“, heißt es aus Sicherheitskreisen.
Während die Täter in den Jahren 2015 bis 2018 die Geldautomaten fast ausschließlich mit Gas sprengten, stellt das LKA seit dem Jahr 2019 vermehrt der Einsatz von Sprengstoff fest, weil die Banken ihre Automaten zum Teil besser sichern. So wurden im Jahr 2021 bereits mehr als zwei Drittel der Taten in NRW mittels so genannter „Blitz-KnallKörper“begangen.
NRW-Innenminister Herbert Reul (CDU) hat den Kampf gegen diese Kriminellen mittlerweile zur Chefsache erklärt und vor wenigen Wochen eine Sonderkommission im Innenministerium mit dem Namen „Begas“(Bekämpfung und Ermittlung von Geldausgabeautomaten-Sprengungen) eingerichtet. Per Erlass des Innenministeriums wurde unter anderem festgelegt, dass nachts alle verfügbaren Kräfte der
Polizei auf der Straße unterwegs sind und die Standorte der Geldautomaten vermehrt beobachtet werden. Die uniformierten Streifen sollen potenzielle Täter abschrecken, die zum größten Teil aus den Niederlanden kommen, insbesondere aus den Städten Amsterdam und Utrecht.
Deutsche und niederländische Polizeibeamte arbeiten bei Ermittlungen zusammen. Jenseits der Grenze wird der Tatbestand durchaus lautmalerisch als „plofkraak” bezeichnet und sorgt bereits seit Jahren für Aufsehen. „Seit 2013 haben wir große Probleme damit, mit teils 100 Fällen im Jahr”, sagt Jelle Wijkstra, Sprecher der Vereinigung Niederländischer Banken ( VNB) unserer Redaktion. Die Behörden reagierten mit einer ganzen Reihe von Maßnahmen, um das Problem in den Griff zu bekommen. So wird das Sprengen eines Geldautomaten strafrechtlich inzwischen nicht mehr als Einbruch gewertet, sondern als gewaltsamer Überfall. Im April 2018 kündigte die niederländische Staatsanwaltschaft an, die Strafforderung künftig von 15 auf 24 Monate Haft zu erhöhen. Gibt es in dem betroffenen Gebäude Wohnungen, kann der Staatsanwalt sogar 48 Monate beantragen.
Aber auch eine verstärkte Zusammenarbeit zwischen Polizei und Banken soll zur Lösung des Problems beitragen. „Wir haben schon seit neun Jahren einen monatlichen Austausch mit den vier Großbanken und auch dem Tochterunternehmen Geldmaat“, sagt Jos van der Stap, der bei der niederländischen Polizei als landesweiter Koordinator für Überfälle zuständig ist: „Dabei besprechen wir neben der Entwicklung der Tätergruppe auch den aktuellen Stand der Prävention. Weil wir mithilfe unseres landesweiten forensischen Koordinationsteams Informationen zur Vorgehensweise der Täter teilen, konnten die Banken adäquate Vorsichtsmaßnahmen treffen.”
Seit Dezember 2019 sind die meisten Automaten zwischen 23 Uhr abends und 7 Uhr morgens außer Betrieb. „Ausnahmen gibt es nur in Gegenden mit viel Besucherverkehr”, sagt Wijkstra, „aber da in den Niederlanden in so gut wie jeder Bar und jedem Club mit Karte bezahlt werden kann, sind das nur wenige.” Ende 2021 gab es in den Niederlanden noch 4916 Bankautomaten. Nach Angaben der Zentralbank DNB hat sich diese Zahl seit 2014 fast halbiert.
Dass in Deutschland die Zahl der Sprengungen zunimmt, sei auch eine Folge dieser Abwehrmaßnahmen in den Niederlanden, meinen dortige Experten. Die beinahe täglichen Explosionen seien „oft auf niederländische plofkrakers” zurückzuführen, sagt Ermittler van der Stap: „Wir sehen, dass unsere Tätergruppe im Ausland, vor allem in Deutschland, aktiv ist, und das hat zweifellos Auswirkungen auf die niedrigeren Zahlen in den Niederlanden.”
Dass sich das Problem in den Niederlanden erledigt hat, ist damit allerdings nicht gesagt. Laut van der Stap weisen erfahrene Sprenger Nachwuchskräfte in „PlofkraakKlassen” geradezu ins Fach ein und vermitteln ihnen Kenntnisse über den Einsatz von Sprengstoff. Während der Kreis der beteiligten Personen vor einigen Jahren 50 Personen umfasste, seien dies heute 400. Dabei gehe es aber um dieselbe Gruppe. „Wir finden es besorgniserregend, dass sie wissen, wie man mit Sprengstoff umgeht“, sagt van der Stap: „Beim Militär braucht man einige Jahre, um das zu lernen, und muss allerlei Sicherheitsmaßnahmen treffen, während diese Kriminellen damit ziemlich achtlos umgehen.”