Hilfe für die Kornkammer Europas
Bundeslandwirtschaftsminister Cem Özdemir ist nach Kiew gereist. Gemeinsam mit seinem ukrainischen Kollegen sucht er nach Lösungen für die Getreidekrise.
KIEW Es ist 20.28 Uhr am Donnerstagabend. Cem Özdemir gibt am polnisch-ukrainischen Grenzübergang Medyka den Startschuss: „Dann gehen wir jetzt in die Ukraine“, ruft der Landwirtschaftsminister, nachdem ihm die polnischen Zöllner ihre Arbeit erläutert haben. Hier an diesem Ort haben sich nach Beginn des russischen Angriffskrieges tausendfach schreckliche Szenen unter den Flüchtlingen abgespielt, weil die Männer von ihren Familien getrennt wurden, um zu kämpfen. Flüchtlinge kommen nun kaum noch, stattdessen warten jetzt Hunderte Lkw-Fahrer 30 bis 40 Stunden, um die Grenze überqueren zu können. Von hier geht es jetzt also los. Özdemirs kleine Delegation muss nur noch zum nahe gelegenen Bahnhof Przemysl, dort steht der Sonderzug in Richtung Kiew bereits abfahrbereit.
Aus Sicherheitsgründen galt höchste Geheimhaltung im Vorfeld der Reise, die der Grüne auf Einladung seines ukrainischen Amtskollegen antritt. Tags zuvor ist er in Warschau gewesen. Auch in der polnischen Hauptstadt geht es vor allem um die wegen des Krieges stockenden Getreideexporte aus der Ukraine, wodurch die Welternährung massiv in Gefahr geraten ist. Das Land gehört zu den größten Lieferanten – und bleibt jetzt auf ihren Vorräten sitzen. Die Häfen sind vermint, auf dem Land- und Schienenweg über Polen sind die logistischen Probleme kaum beherrschbar. Es fehlen Waggons, Lkw, Container. Und ein Ende der Misere ist nicht in Sicht. Das bekommt Özdemir überall zu hören.
Auf ihn und seine Delegation wartet bereits der Zug, eine Lok mit einem angehängten Waggon. Es wird eine zehnstündige Fahrt bis Kiew, der Waggon ist abgedunkelt, der Zug rollt nicht, er rumpelt voran. Ganz vorne bei den Abteilen hängt eine kleine Ahnengalerie mit Spitzenpolitikern, die schon mitgefahren sind. Bundestagspräsidentin Bärbel Bas, EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen, CDU-Chef Friedrich Merz, Boris Johnson. Eine ukrainische Spezialeinheit steigt zu, Splitterschutzwesten sind vor dem Einstieg verteilt worden.
Es ist eine unruhige Zugfahrt durch die Nacht, die am Freitagmorgen in Kiew endet. Dort ist das Leben zurückgekehrt, in den Geschäften dudeln die Charthits, „die Straßen werden voller“, wird erzählt. Zehntausende Ukrainer sind wieder zurückgekommen. Es gibt zwar noch zwei- bis dreimal am Tag Luftalarm, doch Bombardierungen in den Randbezirken sind schon länger ausgeblieben. Man sieht Sandsäcke und Panzersperren, „im Moment sind wir froh, dass es ruhig ist“, heißt es. Doch keiner weiß, was der Kreml noch plant. Kiew kann schnell wieder ins Visier der Russen geraten. Die Angst davor ist jedenfalls groß.
In den Nachbarstädten sind die Verwüstungen hingegen sichtbarer, in Irpin zum Beispiel. Nachdem die russischen Truppen dort eingefallen waren, flohen viele der 60.000 Einwohner, es soll Kriegsverbrechen gegeben haben. Die zerstörte Brücke der Stadt wurde zu einem der Symbole des russischen Angriffskrieges; die Bilder der Menschen, die über den dortigen Fluss flohen, gingen um die Welt. Ein Großteil der Gebäude der Stadt wurden zerstört. Auch das hiesige Forstinstitut, das von Özdemirs Ministerium gefördert wird. „Ich wollte es mit eigenen Augen sehen“, sagt der Minister nach seiner Ankunft vor der Ruine. „Wir stehen an Ihrer Seite“, verspricht er Institutsdirektor Viktor Melnychenko. Die Kooperation werde weitergehen.
Wie man zusammenarbeiten kann, bespricht Özdemir dann auch mit dem ukrainischen Landwirtschaftsminister Mykola Solskyj. Nach dem Gespräch warnt der Deutsche: „Global gesehen können schlimme Zeiten auf uns zukommen. In vielen Ländern gehen die Vorräte zur Neige.“Man arbeite an Lösungen für die Getreideexporte, die für die Welternährung so wichtig sein. „Aber alles braucht seine Zeit“, dämpft Solskyj die Erwartungen. Immerhin: Vor dem Krieg exportierte das Land fünf Millionen Tonnen Agrarprodukte monatlich. Inzwischen sind es wieder 1,7 Millionen Tonnen. Aber das ist noch nicht genug, um die globale Krise zu entschärfen. Man traue Russland nicht, wenn es Korridore über das Schwarze Meer anbiete, so Özdemir und sein ukrainischer Kollege. Aber jede andere Lösung bleibe halt die „zweit- oder drittbeste“. Soll heißen: Es fehlen bisher die Hebel, um die Lebensmittelkrise entscheidend zu entschärfen. Daran ändert auch Özdemirs Besuch nichts.
Mit leeren Händen kommt der Minister freilich nicht: Er sichert der Ukraine fünf Millionen Euro für dringend benötigte Arzneimittel in der Tierhaltung zu, außerdem 500.000 Euro für den Ausbau von Laborkapazitäten in Izmail nahe der rumänischen Grenze, um die Abfertigung von Agrarexporten zu beschleunigen. Darüber hinaus sollen Kooperationsprogramme in Höhe von 1,7 Millionen Euro weiterlaufen. Bereits geliefert wurden 43.000 Säcke mit Maissaat. „Wir sind bereit, alles zu tun, damit die Ukraine am Weltmarkt so schnell wie möglich wieder präsent sein kann“, verspricht Özdemir. Aber dafür muss der Krieg erst enden.
Wie handfest die Probleme sind, erfährt Özdemir dann rund 100 Kilometer vor den Toren Kiews. Dort ziehen sich riesige grüne Felder in die Weite. Man ahnt, warum das Land die „Kornkammer Europas“genannt wird. Özdemir trifft den Deutschen Alexander Zein. Der 42-Jährige ist als Betriebsleiter für 4500 Hektar Land verantwortlich, er baut Mais, Weizen, Sonnenblumen und Raps an. Vor 15 Jahren kam der gelernte Landwirt in die Ukraine, als dann der Krieg im Februar begann, floh er mit seiner Frau und zwei Kindern. Im April kam er zurück. „Wir müssen die Ware aus dem Land kriegen“, sagt auch er. Bald komme die neue Ernte und „dann werden wir einen großen Berg vor uns herschieben“. Seine Forderung: Die Grenzkontrollen auf EU-Seite müssten dringend vereinfacht und beschleunigt werden. Auch fehle Treibstoff, „die Tankstellen sind leer“. Am Abend steigt Özdemir in Kiew wieder in den Zug. Im Gepäck eine lange Liste mit Wünschen.