EU streitet um Status von Gas und Atom
Können solche Kraftwerke als nachhaltig gelten? Darüber entscheidet am Dienstag das EU-Parlament.
BRÜSSEL Im Schatten der Silvesterraketen zündete die EU-Kommission Minuten vor der Jahreswende einen Streitböller, der Umweltschützer und Atomgegner auf die Barrikaden brachte – und viele Interessierte das Wort „Taxonomie“erst lernen ließ. Damit gemeint: die Investitionsempfehlung für Gas und Atom als „nachhaltige“Formen der Energie-Gewinnung. Während das Gesetzesprojekt bei den Mitgliedsländern insgesamt glatt durchgehen könnte, braut sich im EuropaParlament Widerstand zusammen. Nächsten Dienstag dürfte der Umweltausschuss in Brüssel eine Ablehnung aussprechen.
Die Bundesregierung jedenfalls hat sich längst auf ein Veto festgelegt und dies auch an die französische Ratspräsidentschaft übermittelt. Dabei hatte die EU-Kommission unter Präsidentin Ursula von der Leyen spekuliert, ihre Taxonomie auch mit
Hilfe Deutschlands durchzukriegen: Zur Jahreswende sah sich Frankreich außer Stande, aus der Atomkraft auszusteigen, so wie Deutschland glaubte, in den nächsten Jahren nicht ohne Gas auskommen zu können. Da schien es logisch, dass die beiden wichtigsten Länder mit einem grünen Label für ihre jeweils bevorzugte Energiequelle zu gewinnen seien. Der russische Angriffskrieg hat nun jedoch die Gemengelage entscheidend verändert: Deutschland geht ambitionierter daran, nicht nur aus russischer Abhängigkeit, sondern auch schneller aus Gas insgesamt auszusteigen.
Dennoch reicht der Widerstand von Anti-Atom-Regierungen nicht aus, um die Gas-Atom-Taxonomie auszuhebeln. Weil es sich um einen „delegierten Rechtsakt“handelt, den die Kommission an der normalen EU-Gesetzgebung vorbei umsetzen kann, ist eine besonders hohe Schwelle zum Stopp durch die Regierungen nötig: 20 von 27 Ländern müssen Nein sagen. Davon sind die Gegner weit entfernt.
Anders im Europa-Parlament. Hier reicht eine einfache Mehrheit der 705 Abgeordneten, also 353 Nein-Stimmen. Die Grünen sind komplett dagegen, bringen es aber nur auf 71 Abgeordnete. Wenn viele der 103 Liberalen ebenfalls mit Nein stimmen, ist allein von diesen beiden Fraktionen schon mal mehr als ein Drittel der Sperre errichtet. So kommt es vor allem auf die beiden großen Gruppierungen an. „Ich erwarte nicht viel Zustimmung aus den Reihen der sozialdemokratischen Fraktion“, sagt der Chef der deutschen SPD-Europa-Abgeordneten, Jens Geier. „Weder Atomenergie noch fossile Brennstoffe können nachhaltig sein“,betont er.
Bei den Vorabstimmungen am Dienstag in den Fachgremien wird erwartet, dass sich der Umweltausschuss klar gegen die Taxonomie entscheidet, während es im Wirtschaftsausschuss ein knappes Rennen geben dürfte. Im Juli kommt es dann im Plenum zum Schwur.
Und selbst wenn die Taxonomie im Juli das Parlament unbeschadet passiert, bleibt ihr Schicksal ungewiss. Die marktwirtschaftlich orientierte cep-Denkfabrik kommt in einem Gutachten zu dem Schluss, dass die EU-Kommission überhaupt nicht befugt sei, eine derart hochgradig politisch umstrittene Grundsatzentscheidung durch einen delegierten Rechtsakt vorzunehmen.