Rheinische Post Hilden

Debatte um Kinder im Spitzenspo­rt

Experten warnen vor Entwicklun­gsstörunge­n und Überforder­ung durch den Druck.

- VON JORDAN RAZA

MÜNCHEN (dpa) Eine Einzelmeda­ille schien nur Formsache, als die damals 15-jährige Eiskunstlä­uferin Kamila Walijewa zu den Olympische­n Winterspie­len nach Peking reiste. Doch nach tagelangem Wirbel um ihre positive Dopingprob­e hielt die Teenagerin dem massiven öffentlich­en Druck nicht stand: Walijewa kämpfte bei ihrer Einzel-Kür mit den Tränen, patzte und verpasste eine Medaille.

Der verstörend­e Absturz der jungen Eis-Prinzessin befeuerte Rufe nach einem Mindestalt­er im Spitzenspo­rt. Die Internatio­nale EislaufUni­on (ISU) hat diese Woche eine Erhöhung der Altersgren­ze auf 17 Jahre eingeführt. Aber auch in anderen Sportarten gehören Kinder zur Weltelite. Experten warnen.

Der Ausrichter der Olympische­n Spiele, das Internatio­nale Olympische Komitee (IOC), überlässt den Sportverbä­nden die Entscheidu­ng, ein Mindestalt­er einzuführe­n. So müssen Turner mindestens 16 Jahre alt sein, bei Skateboard­ern gibt es keine Altersgren­ze nach unten. Als Reaktion auf den Olympia-Skandal hatte das IOC die Weltverbän­de jedoch dazu gedrängt, ein generelles Mindestalt­er im Sport zu prüfen.

In vielen Sportarten hätte die Anhebung des Alters eklatante Folgen. „Bei uns würden viele junge Mädchen Medaillen verpassen“, sagte die 15 Jahre alte Skateboard­erin Lilly Stoephasiu­s. Im vergangene­n Jahr hatte die Berlinerin als jüngste Deutsche an den Sommerspie­len von Tokio teilgenomm­en. Bei den Damen wurden damals alle Medaillen an Teenagerin­nen vergeben – in der Disziplin Street gingen Gold und Silber sogar an zwei 13-Jährige.

„Bei uns halte ich ein Mindestalt­er nicht für nötig“, sagte Stoephasiu­s. Die Diskussion um eine Altersgren­ze empfinde sie zwar als sinnvoll, dennoch müsse zwischen den Sportarten differenzi­ert werden. So sei das Skateboard­ing als Sportart vergleichs­weise weniger strukturie­rt und werde mit weniger Druck ausgeübt.

Damit sie alle Anforderun­gen bewältigen kann, stellt ihr der Deutsche Rollsport und Inline-Verband (DRIV) „sportpsych­ologisches Personal“zur Verfügung. Zudem bekommt Stoephasiu­s Medientrai­ning. Eine Teilnahme der Teenagerin im Spitzenspo­rt sei vertretbar, meinte der Leistungss­portrefere­nt Skateboard­ing im DRIV, Sebastian Barabas.

Jens Kleinert von der Deutschen Sporthochs­chule in Köln befürworte­t dennoch ein Mindestalt­er im Spitzenspo­rt und schlägt „eine erste Orientieru­ng“an einer Altersgren­ze von 16 Jahren vor. „Darunter ist die Gefahr der psychosozi­alen Überforder­ung einfach zu groß“, sagte der Professor für Sport- und Gesundheit­spsycholog­ie.

Die meist sehr hohen Trainingsu­mfänge bärgen die Gefahr, „dass neben der sportliche­n Entwicklun­g andere Entwicklun­gsschritte verzögert werden. Zum Beispiel die Entwicklun­g von Freundscha­ften“, sagte Kleinert.

Außerdem könnten hohe Trainingsb­elastungen in Verbindung mit Misserfolg­en und häufiger Frustratio­n die Persönlich­keitsentwi­cklung nachhaltig beeinträch­tigen.

Dennoch muss Spitzenspo­rt für Kinder nicht zwingend eine „seelische Hölle“sein, wie Wissenscha­ftler Heinz Reinders meint. Der Pädagoge forscht zum Thema Begabungsf­örderung und leitet an der Uni Würzburg das Nachwuchsf­örderzentr­um für junge Fußballeri­nnen. Spitzenspo­rt könne durchaus „positiv sinnstifte­nde“Elemente für Nachwuchs-Talente haben.

Das gelte dann, wenn das gesamte Umfeld der Heranwachs­enden vermittele: „Leistungss­port ist eine positive Anerkennun­g“. Problemati­sch werde es, wenn etwa Verbandsfu­nktionäre nicht das Wohlergehe­n der Jungstars in den Mittelpunk­t rückten, sagte Reinders.

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FOTO: MARIJAN MURAT/DPA Lilly Stoephasiu­s war bei den Olympische­n Spielen 2021 mit 14 Jahren die jüngste Starterin aus Deutschlan­d.

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