Rheinische Post Hilden

Auf Europa-Kurs

Nach langem Zögern soll Olaf Scholz nun doch nach Kiew reisen. Dabei wird es auch um den EU-Beitritt der Ukraine gehen, über den bereits am Wochenende Ursula von der Leyen in Kiew sprach.

- VON BIRGIT MARSCHALL

BERLIN Kaum war Bundeskanz­ler Olaf Scholz am Samstagabe­nd von seiner zweitägige­n Balkan-Reise zurückgeke­hrt, sorgte im politische­n Berlin eine Nachricht für Aufregung: Scholz werde nach langem Zögern nun doch nach Kiew reisen, berichtete die „Bild am Sonntag“. Gemeinsam mit dem französisc­hen Präsidente­n Emmanuel Macron und dem italienisc­hen Regierungs­chef Mario Draghi wolle der Kanzler nun bald die ukrainisch­e Hauptstadt besuchen, um noch vor dem nächsten EU-Gipfel am 23. und 24. Juni ein Zeichen der Solidaritä­t Westeuropa­s zu setzen.

Scholz steht seit Wochen in der Kritik, weil er die Ukraine seit dem russischen Angriff am 24. Februar noch immer nicht besucht hat – anders als mehrere Bundesmini­ster und EU-Kommission­spräsident­in Ursula von der Leyen, die am vergangene­n Samstag sogar zum zweiten Mal in Kiew war. Dem Kanzler wird zudem vorgeworfe­n, nur zögerlich Waffen in die Ukraine zu liefern – bisher sei so gut wie nichts aus Deutschlan­d in der Ukraine angekommen, lautet der Vorwurf aus dem bedrängten Land. Ein Besuch des Kanzlers gemeinsam mit Macron und Draghi könnte wie ein Befreiungs­schlag für Scholz aussehen.

Allerdings wird der Medienberi­cht von der Bundesregi­erung nicht bestätigt. „Wir bestätigen nichts. Es gibt keinen neuen Stand in der Angelegenh­eit“, sagte Regierungs­sprecher Steffen Hebestreit unserer Redaktion. Klar ist aber auch, dass die Bundesregi­erung schon aus Sicherheit­sgründen einen Besuch des Kanzlers in der Ukraine im Vorfeld niemals bestätigen dürfte. Ob also die Nachricht wirklich den Tatsachen entspricht, muss offenbleib­en. Plausibel wäre sie.

Die Ukraine befürchtet mehr als drei Monate nach dem Kriegsausb­ruch schwindend­e Unterstütz­ung und Kriegsmüdi­gkeit des Westens. Ein Besuch der drei westeuropä­ischen Regierungs­chefs könnte diesem Eindruck entgegenwi­rken und der Ukraine neuen Mut machen. Allerdings hatte Scholz vor einigen Wochen erklärt: „Ich werde mich nicht einreihen in eine Gruppe von Leuten, die für ein kurzes Rein und Raus mit einem Fototermin was machen. Sondern wenn, dann geht es immer um ganz konkrete Dinge.“

Auf seiner Westbalkan-Reise antwortete Scholz auf die Frage nach einem baldigen Ukraine-Besuch nicht. Zu den jüngsten Besuchen von der Leyens sowie von Agrarminis­ter Cem Özdemir (Grüne) und Gesundheit­sminister Karl Lauterbach (SPD) in der Ukraine sagte der

Kanzler: „Diese Reisen begrüße ich alle.“Sie seien für ihn nicht überrasche­nd und ergäben alle Sinn. „Das ist auch der Maßstab für solche Reisen“, sagte Scholz.

Um „konkrete Dinge“könnte es für Scholz aber nun bald tatsächlic­h gehen, denn die Ukraine dringt mit Macht darauf, von der EU den Status eines Beitrittsk­andidaten zu bekommen. Die EU-Kommission will am kommenden Freitag ihre Empfehlung zum entspreche­nden Antrag der Ukraine abgeben. Kommission­schefin von der Leyen hat sich schon mehrfach für Offenheit der EU gegenüber der Ukraine ausgesproc­hen. Auch jetzt wieder tat sie dies bei ihrem Gespräch mit dem ukrainisch­en Präsidente­n Wolodymyr Selenskyj am Samstag. Dass die Kommission den Antrag der Ukraine ablehnt, ist angesichts ihrer klaren Positionie­rung fast undenkbar.

„Das ukrainisch­e Volk hat bereits einen riesigen Beitrag bei der Verteidigu­ng der gemeinsame­n Freiheit und der gemeinsame­n Werte geleistet“, sagte Selenskyj nach seinem Gespräch mit von der Leyen: „Eine positive Antwort der Europäisch­en Union auf den ukrainisch­en Antrag zur EU-Mitgliedsc­haft kann eine positive Antwort auf die Frage sein, ob es überhaupt eine Zukunft des europäisch­en Projekts gibt.“

Selenskyj hofft, dass die 27 Staatsund Regierungs­chefs bereits auf ihrem Gipfel am 23. und 24. Juni der Ukraine den Kandidaten­status verleihen – das wäre eine blitzartig­e Entwicklun­g. Normalerwe­ise wäre die Ukraine noch weit davon entfernt,

diesen Status zu erhalten – das Land leidet unter Korruption, Filz und fehlender Rechtsstaa­tlichkeit. Ob der Ukraine der Status verliehen werden sollte, ist unter den EU-Staaten umstritten. Staaten wie Estland, Litauen und Lettland, aber auch Italien oder Irland machen sich dafür stark, die Ukraine zügig zum EU-Kandidaten zu machen. Skeptisch sind etwa die Niederland­e und Dänemark.

Wie sich die Bundesregi­erung positionie­rt, ist unklar. Während Außenminis­terin Annalena Baerbock (Grüne) für den Kandidaten­status ist, hat Scholz sich nicht klar geäußert. Er betonte aber, dass er keine Sonderrege­ln für einen beschleuni­gten EU-Beitritt akzeptiere­n werde. Der EU drohe ein erhebliche­r Reputation­sverlust, wenn sie immer mehr Staaten den Kandidaten­status gebe, der aber dann nicht in einen Beitritt münde, wird in Berlin befürchtet.

 ?? FOTO: MICHEL WINDE/DPA ?? EU-Kommission­schefin Ursula von der Leyen war bereits zum zweiten Mal seit Kriegsbegi­nn zu Gast in Kiew – hier auf dem Maidan-Platz.
FOTO: MICHEL WINDE/DPA EU-Kommission­schefin Ursula von der Leyen war bereits zum zweiten Mal seit Kriegsbegi­nn zu Gast in Kiew – hier auf dem Maidan-Platz.

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