Alarm in den Dünen
Wijk aan Zee könnte einer der idyllischsten Orte an der niederländischen Küste sein, wenn da nur das Stahlwerk des Konzerns Tata Steel nicht wäre. Die Geschichte vom Kampf eines Dorfes um saubere Luft.
Erschöpft, aber glücklich – so saßen Antoinette Verbrugge und ihr Lebensgefährte am Abend nach dem Umzug auf dem Balkon der neuen Wohnung. Es war warm, Ende August, von der See fielen die letzten Sonnenstrahlen durch die Dünen. Doch da war dieser Gestank, den der Wind herüberwehte, und alles war mit klebrigem Staub bedeckt. In der Nacht wurde Verbrugge wach und musste husten, bis sie weinend im Bett saß: „Ich war zu Tode erschrocken und wollte fliehen, doch wusste nicht, wohin“, erinnert sie sich.
Es ist nicht so, dass Antoinette Verbrugge und ihr Partner 2018 völlig ahnungslos nach Wijk aan Zee gezogen wären. Die Schornsteine des Fabriken-Agglomerats von Tata Steel – zwischen dem Dorf und dem nahen Nordseekanal gelegen – sind schließlich nicht zu übersehen, wenn man den 2000-Seelen-Ort besucht, der etwa auf halber Strecke zwischen Zandvoort und Egmond aan Zee gleich oberhalb der Mündung des Nordeekanals liegt. Doch der Charme des kleinen Dorfes, das entspannte Tempo, die kleinen Backsteinhäuser, die sich an hohe Dünen schmiegen, all das gab dann doch den Ausschlag, an die Küste zu ziehen. „Ich hatte mich informiert. Mit den Lizenzen der Fabrik schien alles zu stimmen. Also dachte ich: In einem Land wie den Niederlanden geht zwar schon mal etwas schief, aber letzten Endes wird es gut geregelt sein. Heute kommt mir das naiv vor,“sagt Verbrugge.
Der Gestank blieb, der Staub auch. Immer wieder stellten sich Husten und Halsschmerzen ein. Innerhalb einer Woche kam der Gedanke, die neue Wohnung zu verkaufen. Doch Antoinette Verbrugge ist nicht die Einzige, die unter den Emissionen des Stahlwerks leidet. Im Gegenteil: Atemwegsbeschwerden gehören seit Langem zum Alltag im sonst so idyllischen Dorf. Eltern sorgen sich, weil die Kinder mit schwarzen Händen und Füßen vom Spielplatz nach Hause kommen, obwohl dieser jeden Tag im Morgengrauen auf Kosten von Tata Steel gereinigt wird. Doch der schmierige, dunkle Staub bleibt nach jedem Regen zurück.
Genau dieser Regen macht Wijk aan Zee, bis dahin eher ein Geheimtipp an der Küste ohne massentouristische Ambitionen, zurzeit im ganzen Land bekannt. „Graphit- Regen“wird er in den Medienberichten
getauft. Darin enthalten sind Teile von Schlacken, einem Abfallprodukt der Stahlherstellung. Untersuchungen des staatlichen Gesundheitsinstituts RIVM weisen im Jahr 2019 sogenannte polyzyklische aromatische Kohlenwasserstoffe (PAK) ebenso nach wie die Schwermetalle Blei, Mangan und Vanadium, die vor allem für kleine Kinder gefährlich sind.
In der Folge kommen immer mehr beunruhigende Details ans Licht, welche die Klagen der Dorfbewohner untermauern: Der Fabrikkomplex in den Händen des indischen, multinationalen Unternehmens Tata, der mit 750 Hektar nicht nur das größte Industriegelände des Landes, sondern auch für die höchsten CO2Emissionen verantwortlich ist, gerät ins Visier behördlicher Inspektionsdienste, denn der Ausstoß von PAK und Stickstoffoxiden liegt jenseits zulässiger Werte. Auch Feinstaubwerte in der Umgebung sind nach Messungen des RIVM stark erhöht. 2020 wird in Schlackebergen auf dem Tata-Gelände nahe eines Radwegs zum Strand das giftige Chrom(VI)-oxid gefunden.Wenig später macht das RIVM bekannt, an drei Messpunkten im Umfeld der Fabrik seien deutlich erhöhte Konzentrationen von Ultrafeinstaub festgestellt worden.
Im Dorf formiert sich nun Protest. Besorgte Eltern und Großeltern wenden sich an die zuständige Provinz Nordholland. Auf der Dorfweide, wo sonst Pferde grasen, findet im Corona-Sommer 2020 eine Kundgebung statt, auf der Slogans wie „Mein Kind hat nur ein paar Lungen“die Runde machen. Das regionale Gesundheitsamt warnt inzwischen, das Lungenkrebsrisiko liege in der Kommune Beverwijk, zu der Wijk aan Zee zählt, 27 Prozent höher als der Landesdurchschnitt. Niederländische Medien finden heraus, dass das Risiko in manchen Gebieten sogar um 51 Prozent erhöht ist.
Ende des Jahres 2020 erstatten die ersten Dorfbewohner Anzeige gegen Tata Steel. Auch Antoinette Verbrugge, inzwischen einer der Aktivposten der Proteste, geht diesen Schritt. In jenem Winter entscheidet man sich für einen Strategiewechsel: Eine Stiftung namens „FrisseWind.nu“(„Frischer Wind jetzt”) wird gegründet, um die einzelnen Anzeigen zu einer Sammelklage zu bündeln. 1200 Personen schließen sich an. Grundlage ist Artikel 173 des niederländischen Strafgesetzbuchs. Strafbar macht sich demnach, „wer vorsätzlich und widerrechtlich eine Substanz auf oder in den Boden, die Luft oder ins Oberflächengewässer bringt, wenn damit Gefahr für die öffentliche Gesundheit oder Lebensgefahr für andere zu befürchten ist“.
Im Frühjahr 2021 wird die Klage in Amsterdam eingereicht – und das nicht von irgendjemandem: Die Anwältin Bénédicte Ficq ist in den Niederlanden bekannt, weil sie einst die Tabakindustrie vor Gericht bringen wollte. Die Klage wurde abgewiesen. Im Vergleich dazu sieht die Anwältin ihren aktuellen Fall so: „Zigaretten stecken sich die Leute selbst in den Mund. Bei einem Stahlkonzern ist die Sachlage anders. Die Menschen dort wissen, dass ihre Emissionen viel Elend verursachen. Darum müssen sie verfolgt werden.“Anfang Februar beschließt die Staatsanwaltschaft strafrechtliche Ermittlungen gegen Tata Steel. „Ein sehr wichtiger Schritt”, findet Bénédicte Ficq. „Hielte die Staatsanwaltschaft unsere Argumentation für unbegründet, hätte sie dies nicht getan“, sagt sie.
Beim Konzern selbst hält man sich vorläufig bedeckt. Zu den konkreten Vorwürfen und den Befunden der Behörden äußert sich das Unternehmen auf Anfrage unserer Redaktion nicht. „Tata Steel hat zur Kenntnis genommen, dass die Staatsanwaltschaft Ermittlungen beschlossen hat“, heißt es in einer schriftlichen Reaktion. Man betont, bei den Untersuchungen kooperativ zu sein und blickt den Ergebnissen „mit Vertrauen“entgegen. Auch bekennt sich das Unternehmen zu seiner „Verantwortung für die Umgebung“und verweist auf sein Innovations-Programm namens „Roadmap Plus“, mit dem schädliche Einflüsse auf die Umwelt reduziert werden sollen.
Auch in dem kleinen Büro im Dorfzentrum gibt man sich aufgeschlossen und kooperativ. „Tata Steel in de buurt“, steht am Eingang: „Tata Steel in der Nachbarschaft“. An den Glastüren werden Fabrikführungen angeboten, Anwohner erfahren, wo sie Klagen einreichen oder ihre Kinder zu einem Fußball-Training im Stadion des nahen Zweitliga-Clubs in Ijmuiden anmelden können. Drinnen stehen ein paar Schreibtische, und es gibt reichlich Informationsmaterial über die geplanten Innovationen. Im August 2019 wurde das Büro eröffnet – eine Idee von Bram Nugteren, sogenannter Umgebungs-Manager bei Tata Steel. „Wir müssen näher zu den Leuten und uns integrieren“, erklärt er seine damalige Intention.
Was die Anklage angeht, reagiert man eher knapp. Der Vorwurf, der Konzern habe mutwillig seine Umwelt geschädigt, sei „schon ein Schreck“gewesen, sagt Nugteren. Nun müsse man das Ergebnis der Ermittlungen abwarten. Wie steht es dann mit dem jüngsten Report des Gesundheitsinstituts RIVM, der im Januar konstatierte, dass die Emissionswerte von Blei, Vanadium und manchen PAK teils wesentlich höher liegen als der Konzern selbst es angibt? „Das finden wir auch überraschend. Wir haben eine Idee, woran das liegt, aber treten damit noch nicht an die Öffentlichkeit“, sagt Nugteren.
Am Dorfrand von Wijk aan Zee führt ein Trampelpfad hinauf auf die Osterdüne, die höchste der Umgebung. Das Panorama ist beeindruckend. Unten liegt das Dorf mit der Pferdewiese, die Backstein-Häuschen und die beiden Kirchtürme, rechterhand glitzert die Nordsee in der Sonne. Unmittelbar dahinter entfaltet sich ein kolossales schwerindustrielles Panorama, das den Begriff „rauchende Schlote“neu zu definieren scheint. Bei Sonnenschein kann das surreal aussehen, bei grauem Himmel geradezu apokalyptisch.
Lässt man diesen Ausblick ein wenig wirken, kommt einem Hans van den Berg in den Sinn, der Werksdirektor, der in einem Interview Anfang des Jahres selbstkritisch sagte, man habe wohl zu spät begonnen, den Produktionsprozess sauberer zu gestalten. Oder es klingen einem die Worte Luc Verkouterens im Ohr, der Hausarzt, der im Dorf wohnt. In seiner Praxis im nahen Ijmuiden wunderte er sich jahrelang über die vielen Lungenleiden bei seinen Patienten. „Irgendwann ging mir ein Licht auf. Hier wird mit der Gesundheit der Anwohnenden gespielt – und auch mit der der Belegschaft“, sagt er.