Überwältigende Zumutungen
Kurz vor Schluss taucht die mittelalterliche Tonfolge des „Dies irae“auf. Mahnt an den „Tag des Zorns“, an das Jüngste Gericht. Steigt empor aus einer Sturzflut von Noten, einem Niagarafall aus Akkorden, und gerät sofort in den Strudel eines Motivs, das der schottische Komponist Ronald Stevenson 90 Minuten lang wie besessen umkreist.
Mehr als 300 Variationen umfasst die „Passacaglia on DSCH“. Es ist Stevensons monumentale Hommage an einen, der diese tönende Signatur oft einsetzte: Dmitri Schostakowitsch. Igor Levit hat das in den 1960er-Jahren komponierte Ungetüm dem Vergessen entrissen, als er es 2021 einspielte. In der Tonhalle beendete er mit diesem Opus magnum jetzt seine Residenz.
Von einem Schlusspunkt kann dabei keine Rede sein. Levit verabschiedet sich mit einer Tour de Force, für die nicht nur die Finger Durchhaltekraft benötigen. Das DSCH-Motiv wird so obsessiv abgewandelt, bis dem Geist schwindelt. Das intellektuelle Vergnügen, das diese Passacaglia bereitet, hat zwanghafte Züge.
Schostakowitsch-Kenner finden vieles wieder: depressive Düsternis, Neigung zur Groteske, brutale Machtdemonstrationen, Jazz-Anspielungen. Levit hat das Stück in beängstigendem Maße verinnerlicht und durchdrungen. Noch im ärgsten Notengewitter klingt sein Spiel strukturiert. Sein Ton verliert nie das Leuchten. Er erscheint aber auch als Hexenmeister, der dem Konzertflügel zuweilen ins Innenleben greift, um gespenstische Wisch-Effekte auf den Saiten zu erzeugen.
Dieser Abend ist für alle ein Grenzgang, eine überwältigende Zumutung. Anke Demirsoy