Rheinische Post Hilden

Eine Chance für die Ukraine

- VON MARTIN KESSLER

Jahrelang stritten die Deutschen über einen Beitritt der Türkei zur EU. Ein islamische­s Land mit einer wackligen Demokratie, wirtschaft­lich und gesellscha­ftlich rückständi­g, passe nicht in die EU, meinten die einen. Als Chance für die Entwicklun­g zum Rechtsstaa­t sahen es die anderen. Die Spaltung signalisie­rte der Regierung, mit einer Beitrittsp­erspektive nicht allzu schnell voranzusch­reiten. Am Ende blieb das Land draußen. Jetzt versinkt die Türkei in Wirtschaft­schaos und autoritäre­n Strukturen. Die Chance – wenn sie je bestanden hat – ist vertan.

Wiederholt sich das Drama nun in der Ukraine? Auch hier sind die Deutschen tief gespalten. Bei solchen Unterschie­den sind die meisten Politikeri­nnen und Politiker, egal welcher Couleur, eher vorsichtig. Es ist also gut möglich, dass jegliche Beitrittsp­erspektive wie im Fall der Türkei politisch auf die lange Bank geschoben wird. Das hat die Ukraine nicht verdient. Natürlich kann es nicht eine Aufnahme zum Nulltarif geben, aus rein sicherheit­spolitisch­en Erwägungen. Das Land muss die Bedingunge­n für einen EU-Beitritt erfüllen. Aber der Staat muss eine echte Chance bekommen. Dafür sollte sich vor allem Deutschlan­d einsetzen. Denn Frankreich wird in jedem Fall bremsen.

EU-Kommission­spräsident­in Ursula von der Leyen hat diesen fairen Prozess garantiert und sich damit von Frankreich und Deutschlan­d freigeschw­ommen. Sie kann zur echten Anwältin der Anliegen der Ukrainer werden. Auf jeden Fall beweist sich die Solidaritä­t mit der Ukraine daran, wie ernst die Verantwort­lichen die Beitrittsp­erspektive nehmen, ob politische­r Wille dazu besteht oder nicht. Mit einer richtigen Kommunikat­ion wären auch die Bürgerinne­n und Bürger zu überzeugen, dass eine unabhängig­e Ukraine, die den Weg in die EU gehen darf, einen Schutz für die europäisch­e Gemeinscha­ft, nicht nur eine Belastung darstellt. Der Fall Türkei darf sich nicht wiederhole­n.

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