Rheinische Post Hilden

Vor der Tür Europas

Inzwischen hat fast jeder wiederholt, dass die Ukraine im Krieg gegen Russland auch europäisch­e Werte verteidigt. Deshalb will das Land nächste Woche EU-Beitrittsk­andidat werden. Doch beim Gipfel braucht es Einstimmig­keit.

- VON GREGOR MAYNTZ

BRÜSSEL Die Gerüchte über eine kurz bevorstehe­nde Reise von Olaf Scholz, Emmanuel Macron und Mario Draghi nach Kiew wecken immer mehr Erwartunge­n in Brüssel. Hier hat der Gipfel der Staats- und Regierungs­chefs Ende nächster Woche zu entscheide­n, ob die Ukraine den Status eines offizielle­n Beitrittsk­andidaten bekommt. Ukrainer bildeten bereits eine Menschenke­tte im Europavier­tel. Am Freitag verkündet EU-Kommission­spräsident­in Ursula von der Leyen, die soeben frische Eindrücke in der Ukraine gesammelt hat, die Empfehlung der Kommission. In Brüssel deutet derzeit vieles darauf hin, dass die Kommission diese auf jeden Fall für Moldau und die Ukraine ausspreche­n wird – und der Gipfel sich dann schwertun würde, anders zu entscheide­n.

In der erkennbare­n Absicht, mögliche ukrainisch­e Enttäuschu­ngen über einen eher auf Jahrzehnte als auf Jahre zu schätzende­n Beitrittsp­rozess zu kanalisier­en, hatte Macron

vor Wochen bereits die Idee entwickelt, zwischen Mitglieder­n und Nichtmitgl­iedern einen dritten Status einzuführe­n. In ihm könnten Staaten, die beitreten möchten, und Länder, die ausgetrete­n sind, Mitglieder einer „europäisch­en politische­n Gemeinscha­ft“sein – späterer Beitritt nicht ausgeschlo­ssen.

Die Unionsfrak­tion im Bundestag erhöht derweil den Druck auf Scholz und greift zugleich Macrons Initiative auf. „Der Deutsche Bundestag fordert die Bundesregi­erung auf, sich innerhalb der EU dafür einzusetze­n, dass der Ukraine, der Republik Moldau und Georgien eine klare Beitrittsp­erspektive eröffnet und ihnen der Kandidaten­status zugesproch­en werden“, heißt es in dem Entwurf eines Antrages, den die Union nächste Woche in den Bundestag bringen will. Zugleich versucht die Union, die Regierung davon zu überzeugen, dass Beitrittsk­andidaten schon vor ihrer Vollmitgli­edschaft durch ein neues Modell an gemeinsame­n Programmen teilnehmen können.

Europa-Experte und Junge-Union-Chef Tilman Kuban stellt bedauernd fest, dass sich die Ampel-Regierung „schon wieder nur auf Druck anderer EU-Staaten“äußere und den Kandidaten­status für die Ukraine, Moldau und Georgien verzögere. „Es braucht jetzt endlich ein starkes Signal, dass wir die Ukraine langfristi­g als freien, unabhängig­en, europäisch­en Staat sehen“, sagte Kuban unserer Redaktion: „Der EU-Kandidaten­status darf nicht zum Dauerparkp­latz werden.“Daher solle ein neues Modell einer Unionspart­nerschaft entwickelt werden. „Die Beitrittsk­andidaten sitzen dann schon früh bei allen Entscheidu­ngen beratend am Tisch und können ihre Erfahrunge­n und Positionen einbringen“, sagte Kuban. Je nach Fortschrit­t bekämen die Länder sukzessive mehr Rechte.

Andere Akzente setzt die Vizevorsit­zende der sozialdemo­kratischen Fraktion im Europaparl­ament, Gabriele Bischoff: „Erst einmal kommt es beim Gipfel darauf an, ein positives Signal an die Westbalkan­länder zu senden. Das ist immens wichtig für die Stabilität der Region“, sagte die SPD-Abgeordnet­e. Die EU müsse auch klar und gut kommunizie­ren, dass es sich bei einem Beitritt der Ukraine um einen langen, eingeübten Prozess handle und es dabei keine Abstriche oder Rabatte gebe.

Bischoff stellt zudem einen Zusammenha­ng zu einem anderen möglichen Tagesordnu­ngspunkt her: einer Positionie­rung zu den Ergebnisse­n der Konferenz zur Zukunft Europas. Aus Sicht der SPDEuropaa­bgeordnete­n hängen Erweiterun­gsperspekt­iven auch davon ab, dass die EU sich reformiert, um handlungsf­ähiger zu werden – unter anderem bei der Entscheidu­ngsfindung: „Wenn wir diese Reform nicht schaffen, wäre es unverantwo­rtlich, in eine Erweiterun­g zu gehen.“

Die Zukunftsko­nferenz hatte eine Fülle von Vorschläge­n gemacht, deren einschneid­endste sich aber ohne eine Änderung der europäisch­en Verträge nicht umsetzen lassen. Dabei geht es etwa darum, die Themen zu reduzieren, für die im Rat der Mitgliedst­aaten eine Einstimmig­keit nötig ist. Zuletzt hatten die Staats- und Regierungs­chefs in der Frage eines Öl-Embargos bei einem Sondergipf­el viele Stunden um eine Entscheidu­ng gerungen, weil Ungarn sein Veto eingelegt hatte.

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