Vor der Tür Europas
Inzwischen hat fast jeder wiederholt, dass die Ukraine im Krieg gegen Russland auch europäische Werte verteidigt. Deshalb will das Land nächste Woche EU-Beitrittskandidat werden. Doch beim Gipfel braucht es Einstimmigkeit.
BRÜSSEL Die Gerüchte über eine kurz bevorstehende Reise von Olaf Scholz, Emmanuel Macron und Mario Draghi nach Kiew wecken immer mehr Erwartungen in Brüssel. Hier hat der Gipfel der Staats- und Regierungschefs Ende nächster Woche zu entscheiden, ob die Ukraine den Status eines offiziellen Beitrittskandidaten bekommt. Ukrainer bildeten bereits eine Menschenkette im Europaviertel. Am Freitag verkündet EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen, die soeben frische Eindrücke in der Ukraine gesammelt hat, die Empfehlung der Kommission. In Brüssel deutet derzeit vieles darauf hin, dass die Kommission diese auf jeden Fall für Moldau und die Ukraine aussprechen wird – und der Gipfel sich dann schwertun würde, anders zu entscheiden.
In der erkennbaren Absicht, mögliche ukrainische Enttäuschungen über einen eher auf Jahrzehnte als auf Jahre zu schätzenden Beitrittsprozess zu kanalisieren, hatte Macron
vor Wochen bereits die Idee entwickelt, zwischen Mitgliedern und Nichtmitgliedern einen dritten Status einzuführen. In ihm könnten Staaten, die beitreten möchten, und Länder, die ausgetreten sind, Mitglieder einer „europäischen politischen Gemeinschaft“sein – späterer Beitritt nicht ausgeschlossen.
Die Unionsfraktion im Bundestag erhöht derweil den Druck auf Scholz und greift zugleich Macrons Initiative auf. „Der Deutsche Bundestag fordert die Bundesregierung auf, sich innerhalb der EU dafür einzusetzen, dass der Ukraine, der Republik Moldau und Georgien eine klare Beitrittsperspektive eröffnet und ihnen der Kandidatenstatus zugesprochen werden“, heißt es in dem Entwurf eines Antrages, den die Union nächste Woche in den Bundestag bringen will. Zugleich versucht die Union, die Regierung davon zu überzeugen, dass Beitrittskandidaten schon vor ihrer Vollmitgliedschaft durch ein neues Modell an gemeinsamen Programmen teilnehmen können.
Europa-Experte und Junge-Union-Chef Tilman Kuban stellt bedauernd fest, dass sich die Ampel-Regierung „schon wieder nur auf Druck anderer EU-Staaten“äußere und den Kandidatenstatus für die Ukraine, Moldau und Georgien verzögere. „Es braucht jetzt endlich ein starkes Signal, dass wir die Ukraine langfristig als freien, unabhängigen, europäischen Staat sehen“, sagte Kuban unserer Redaktion: „Der EU-Kandidatenstatus darf nicht zum Dauerparkplatz werden.“Daher solle ein neues Modell einer Unionspartnerschaft entwickelt werden. „Die Beitrittskandidaten sitzen dann schon früh bei allen Entscheidungen beratend am Tisch und können ihre Erfahrungen und Positionen einbringen“, sagte Kuban. Je nach Fortschritt bekämen die Länder sukzessive mehr Rechte.
Andere Akzente setzt die Vizevorsitzende der sozialdemokratischen Fraktion im Europaparlament, Gabriele Bischoff: „Erst einmal kommt es beim Gipfel darauf an, ein positives Signal an die Westbalkanländer zu senden. Das ist immens wichtig für die Stabilität der Region“, sagte die SPD-Abgeordnete. Die EU müsse auch klar und gut kommunizieren, dass es sich bei einem Beitritt der Ukraine um einen langen, eingeübten Prozess handle und es dabei keine Abstriche oder Rabatte gebe.
Bischoff stellt zudem einen Zusammenhang zu einem anderen möglichen Tagesordnungspunkt her: einer Positionierung zu den Ergebnissen der Konferenz zur Zukunft Europas. Aus Sicht der SPDEuropaabgeordneten hängen Erweiterungsperspektiven auch davon ab, dass die EU sich reformiert, um handlungsfähiger zu werden – unter anderem bei der Entscheidungsfindung: „Wenn wir diese Reform nicht schaffen, wäre es unverantwortlich, in eine Erweiterung zu gehen.“
Die Zukunftskonferenz hatte eine Fülle von Vorschlägen gemacht, deren einschneidendste sich aber ohne eine Änderung der europäischen Verträge nicht umsetzen lassen. Dabei geht es etwa darum, die Themen zu reduzieren, für die im Rat der Mitgliedstaaten eine Einstimmigkeit nötig ist. Zuletzt hatten die Staats- und Regierungschefs in der Frage eines Öl-Embargos bei einem Sondergipfel viele Stunden um eine Entscheidung gerungen, weil Ungarn sein Veto eingelegt hatte.