„Schockwellen werden durch das Land gehen“
Der Chef der Bundesnetzagentur über einen drohenden Gas-Lieferstopp, Sparvorgaben für Vermieter und den nächsten Preisschub.
KLAUS MÜLLER
DÜSSELDORF Wenn Putin das Gas abdreht, kommt es auf die Bundesnetzagentur an. Die Bonner Behörde hat ihr Lagezentrum eingerichtet: Ein eigener Brunnen für die Wasserversorgung, Satellitentelefone, Generatoren und 5000 Liter Diesel sollen die Krisenmanager arbeitsfähig halten, auch wenn die allgemeine Versorgung zusammenbricht. Im Keller befinden sich Duschen und Feldbetten, auch ein kleiner Essensvorrat ist angelegt. Herzstück ist ein fensterloser Raum mit zwei Bildschirmen an jedem Arbeitsplatz. Hier verteilen im Notfall 65 Mitarbeiter im Schichtbetrieb das wenige Gas, das noch fließt. Wir sprachen mit Klaus Müller, dem Präsidenten der Netzagentur, über den Ernst der Lage.
Herr Müller, Gazprom liefert seit ein paar Tagen weniger Gas nach Deutschland. Sind Sie besorgt? MÜLLER Wir sind sehr wachsam. Dass Gazprom seine Lieferungen durch Nord Stream 1 nun auf etwa 40 Prozent senkt, ist ein Warnsignal und technisch nicht zu begründen. Russland schürt damit leider Verunsicherung und treibt die Gaspreise hoch.
Fürchten Sie, dass Russland nun beim Lieferstopp ernst macht? MÜLLER Es lag bislang in der russischen Logik, Deutschland weiter Gas verkaufen zu wollen. Aber wir können nichts ausschließen.
Was heißt es, wenn Gazprom über Wochen nur 40 Prozent durch Nord Stream 1 liefert?
MÜLLER Das würde unsere Situation erheblich verschlechtern. Über den Sommer könnten wir das vielleicht aushalten, denn die Heizsaison ist ja vorbei. Allerdings müssen wir jetzt zwingend die Speicher füllen, um den Winter zu überstehen – auch mit russischem Gas.
Wie voll sind denn die Lager? MÜLLER Die Speicher in Deutschland sind zu 55 Prozent gefüllt. Doch das reicht natürlich nicht. Bis November müssen es 90 Prozent plus x werden.
Würde das im Winter reichen? MÜLLER Nein. Bei einem durchschnittlichen Winter reichen die Speicher für vielleicht 2,5 Monate, die Heizsaison ist aber deutlich länger. Darum ist es so wichtig, dass die beiden schwimmenden Flüssiggas-Terminals, die Floating Storage and Regasification Units, in Wilhelmshaven und Brunsbüttel vor Anker gehen. Ich rechne damit, dass sie im nächsten Winter verfügbar sind. Über sie können jährlich jeweils etwa 50 Terawattstunden Gas importiert werden, das sind jeweils etwa fünf Prozent des Gasverbrauchs in Deutschland.
Schaffen wir damit den Winter? MÜLLER Nein, daher hat die Bundesregierung zwei weitere FSRU geordert. Noch offen ist, wo sie hinkommen. Derzeit wird geprüft, nicht nur die Nordsee, sondern auch die Ostsee einzubeziehen. Denn wir brauchen auch genug Leitungskapazitäten im Hinterland, um ausreichend Gas von der Küste nach Süddeutschland bringen zu können.
Ein Flüssiggas-Terminal könnte vor Lubmin vor Anker gehen, wo die Nord-Stream-Röhren ankommen? MÜLLER Ein schwimmender Terminal vor Lubmin wird geprüft, hierzu laufen derzeit klärende Gespräche. Die Hinterland-Anbindung an das Pipeline-System wäre wegen Nord Stream jedenfalls da. Es müssen aber noch nautische Bedingungen geklärt werden. Die Ostsee ist ja nicht so tief wie der Hafen in Wilhelmshaven. Und das Gas muss vom Schiff an Land kommen – mit neuen Rohren oder mit den vorhandenen.
Die Bundesregierung hat im März dieses Jahres die Frühwarnstufe des Notfallplans Gas ausgerufen. Bestürmen Unternehmen Sie trotzdem weiterhin?
MÜLLER Die Briefe werden weniger, und vor allem ändert sich die Tonlage. Zunächst hatte jedes Unternehmen erklärt, warum es systemrelevant ist und zwingend Gas benötigt. Jetzt erörtern Unternehmen gemeinsam mit uns, wo sie im Notfall Gas einsparen und welche Betriebsteile
sie herunterfahren können, um andere zu sichern.
Wie viel Zeit hat die Netzagentur, um reagieren zu können?
MÜLLER Es dauert vielleicht 24 Stunden, bis wir das Zudrehen des Gashahns durch Russland in Deutschland bemerken. Unsere Reaktionszeit ist dann nicht besonders lang.
Was passiert, wenn der Bund die Notfallstufe ausrufen würde? MÜLLER Es gibt keine abstrakte Abschalt-Reihenfolge. Wenn wir Gas rationieren müssen, versuchen wir, die volks- und betriebswirtschaftlichen Schäden sowie die sozialen Folgen zu minimieren.
Wie gehen Sie also vor?
MÜLLER Wir haben drei Gruppen von Gaskunden: In der ersten sind 2500 Industrieunternehmen, die eine Anschlussleistung von mehr als zehn Megawatt Gas pro Stunde haben. Das sind unter anderem die großen Chemie-, Stahl-, Glas-, Zement und Aluminium-Hersteller. Sie verbrauchen 60 Prozent des industriell genutzten Gases. Hier können wir schnell und zielgerichtet Gas einsparen, indem wir eine punktuelle Abschaltverfügung erlassen. Unsere Abfrage bei Firmen hat uns eine erste Datengrundlage für die Sicherheitsplattform Gas geliefert.
Was ist mit kleineren Firmen? MÜLLER Hier können wir ratierliche Einsparungen verfügen – wir können sie etwa anweisen, den Gasverbrauch um zehn oder 20 Prozent zu senken. Das gilt auch für Freizeiteinrichtungen wie Schwimm- und Spaßbäder, bei denen es natürlich naheliegt, Reduzierungen zu verfügen, bevor wir an anderer Stelle größere Schäden anrichten. Als drittes gibt es geschützte Kunden wie private Haushalte, Altenheime, Krankenhäuser, Polizei, Feuerwehr, Schulen, Kitas und Gefängnisse. Sie sollen möglichst weiter versorgt werden.
Sie können nicht selbst abdrehen? MÜLLER Nein, die Gashähne sind bei den Versorgern oder Firmen. Aber wir leben in einem Rechtsstaat. Ich gehe davon aus, dass die Unternehmen eine Verfügung sofort umsetzen, zumal wir das auch anhand der Gasflüsse sehen können. Notfalls setzen die Länder mit Polizeikräften die Abschaltung durch.
Der Schutz der Tiere bei der Verteilung ist ein Marketing-Gag, oder? MÜLLER Nein, der Tierschutz ist grundgesetzlich verankert. Deshalb sollen auch Bauernhöfe und Tierheime möglichst weiter Gas erhalten.
Ist es ausgeschlossen, dass Privatkunden frieren?
MÜLLER Wir tun alles, um kalte Wohnungen zu verhindern, und private Verbraucher stehen überhaupt nicht im Fokus unserer Vorbereitungen. Doch versprechen kann ich ehrlicherweise bei einem langen harten Winter und knappem Gas nichts.
Was können wir tun, um uns für den Winter vorzubereiten?
MÜLLER Es gilt das alte Sprichwort: Spare in der Zeit, dann hast du in der Not. Gas, das Firmen und Haushalte jetzt einsparen, würde uns helfen, über den Winter zu kommen.
Aus der Pandemie sind wir ungewöhnliche Maßnahmen gewohnt. Was könnte der Staat tun, um den Spardruck zu erhöhen?
MÜLLER Wir möchten Mechanismen etablieren, um Unternehmen, die freiwillig Gaskontingente abtreten, mit einer Prämie zu belohnen. Es ist immer besser, wenn Anpassungen über Preise geschehen als über dirigistische Vorgaben. Und im Mietrecht gibt es Vorgaben, wonach der Vermieter die Heizungsanlage während der Heizperiode so einstellen muss, dass eine Mindesttemperatur zwischen 20 und 22 Grad Celsius erreicht wird. Der Staat könnte die Heizvorgaben für Vermieter zeitweise senken. Darüber diskutieren wir mit der Politik.
Wie geht es weiter bei den Preisen? MÜLLER Die Gaspreise dürften weiter kräftig steigen. Schon jetzt haben sie sich für private Haushalte gegenüber der Vorkriegszeit vervielfacht. Für Mieter kann es eine böse Überraschung geben, werden hohe Nachzahlungen fällig werden. Das können schnell mehr als 1000 Euro sein, da werden Schockwellen durch das Land gehen. Banken werden ihre Geschäfte mit Ratenkrediten hochfahren, angeschlagenen Firmen droht die Insolvenz.
Ein bisschen hört sich das nach Wiederkehr der Finanzkrise an. MÜLLER Das ist durchaus die Sorge. Umso wichtiger ist es, jetzt so viel Gas zu sparen wie möglich. Jeder Einzelne kann seinen Beitrag dazu leisten.
ANTJE HÖNING FÜHRTE DAS GESPRÄCH.