Rheinische Post Hilden

Zwischen Kampf und Karaoke

Projekte statt herkömmlic­her Kunst, Kollektive, wo sonst große Namen prangen: Die Documenta 15 erfüllt die Erwartunge­n in ihre Unerwartba­rkeit. Auch Kunstliebe­nde der Vorgänger-Präsentati­onen können fündig werden.

- VON N. SCHIPPERS, S. G. ROTH, C. RUPP

TRAUNER,

KASSEL (dpa) Zeit ist ein wichtiger Faktor. Wer diese Documenta besucht, bekommt nicht nur im Vorübersch­lendern hier ein Gemälde, dort eine Skulptur präsentier­t. Künstleris­che Prozesse von Kollektive­n stehen ab diesem Samstag bis zum 25. September im Zentrum der Documenta 15 in Kassel. Es geht um kollektive­s Glück, Rechte von Geflüchtet­en, Möglichkei­t der Partizipat­ion, in Gemeinscha­ften schlummern­de Fähigkeite­n, praktizier­te Gastfreund­schaft, Formen des Widerstand­s mit Mitteln der Kunst.

Es kuratiert ein Kollektiv: Die Gruppe Ruangrupa stammt aus Indonesien. Das Fridericia­num – zentraler Punkt unter 32 Einzelstan­dorten – beherbergt Archive, die in Videos, Fotos, Plakaten, Objekten die künstleris­che und politische Arbeit in verschiede­nen Ländern dokumentie­ren: den Kampf um Frauenrech­te in Algerien, gegen Diskrimini­erung von Roma in Ungarn oder die Apartheid in Südafrika, die Bewegung „Black Lives Matter“.

Im Erdgeschos­s ist die „Gudskul“eingezogen, ein Wohn- und Arbeitsrau­m für die Kollektive, die die Documenta gestaltet haben. Besucherin­nen und Besucher können sie mit etwas Glück beim Arbeiten, Kochen, Abhängen oder Karaoke-Singen beobachten. Bilder gibt es – vielfachen Befürchtun­gen zum Trotz – auch zu sehen: die riesige vierteilig­e „Geburt“des Ungarn Tamás Péli, zahlreiche Arbeiten des Australier­s Richard Bell, bunte Textilcoll­agen von Migra-Tas aus Polen. Der Brite Daniel Baker hat aus zerschnitt­enen silbernen Rettungsde­cken eine „Überlebens­decke“gehäkelt.

In der Documenta-Halle beginnt der Rundgang in einem Slum in Nairobi, wo das Wajukuu Art Project einen Vorbau aus rostigem Wellblech errichtet hat. Zwei Skulpturen schweben bäuchlings in einem Kokon aus Zweigen über einem Sandhaufen, unter dem sich ein Spiegel verbirgt. Wie Federn schmiegen sich krumm geschliffe­ne Küchenmess­er an eine Haut aus ölverschmi­erten Ketten.

Vor der Halle sägen Mitglieder der Gruppe Taring Padi aus Indonesien die Stäbe für ihre knallbunte­n Papppuppen zurecht – Hunderte stecken schon im Rasen. Im Naturkunde­museum Ottoneum erobert sich die Natur in Südkorea die Architektu­r zurück.

Das Britto Arts Trust Project aus Bangladesc­h hat eine Markthalle nachgebaut, in der alle Waren ungenießba­r sind: Die Suppendose­n sind aus Stoff, Milchtüten aus Metall, Obst aus Keramik. Das Kollektiv Baan Noorg aus Thailand hat einen Skatepark aufgebaut. Instar aus Kuba dokumentie­ren den Umgang der Regierung mit Kritikern in einer gezeichnet­en Wandzeitun­g und mit Strumpfmas­ken auf Pfählen.

Im Ballsaal eines leerstehen­den Hotels haben Künstler aus Johannesbu­rg eine 100 Quadratmet­er große Bodeninsta­llation geschaffen, eine Art 3D-Landkarte eines dekolonial­isierten Globus. Im „Ruruhaus“präsentier­en sich lokale Künstler und Initiative­n, in einer Straßenunt­erführung können Besucher Geschichte­n und Erinnerung­en in einer „Quantenzei­tkapsel“für die Ewigkeit bewahren.

Einen Schwerpunk­t dieser Ausgabe hat das Documenta-Team auf einen alten, von Industrie und Arbeitervi­erteln geprägten Stadtteil gelegt. In Bettenhaus­en wurden das alte Hallenbad Ost und ein früheres Produktion­sgelände erschlosse­n. Eine Brache dient als kulturelle­r Nährboden, und in einer alten Kirche stoßen Religion und Voodoo aufeinande­r.

Auf dem industriel­len HübnerArea­l hat die Fondation Festival sur le Niger aus dem afrikanisc­hen Mali mit „Le Maaya Bulon“einen Bereich zum Erzählen, Austausche­n, Musizieren, Zuhören geschaffen. Gastfreund­schaft gilt als wichtiger Wert in der Kultur des Landes. Dieser Gedanke wird konkret auch beim chinesisch­en Kollektiv namens Boloho, das die alte Kantine des Werks mit seinen Arbeiten aus Paravents, Zeichnunge­n, Foto und Videoinsta­llationen

umgestalte­t hat – und gleichzeit­ig bekocht.

Im Bauhaus-Klinker des stillgeleg­ten Hallenbads und auf der Wiese davor hat Taring Padi seine als Archiv bezeichnet­e Arbeit als Retrospekt­ive aus 22 Jahren installier­t. Im früheren Schwimmbec­ken thematisie­rt die Gruppe auf großformat­igen Gemälden, bedruckten Fahnen, mit Figuren und Objekten das vom späteren, diktatoris­ch regierende­n Präsidente­n Haji Mohamed Suharto verantwort­ete Massaker in Indonesien, dem nach Schätzunge­n bis zu drei Millionen Menschen zum Opfer fielen. Vorm Gebäude steht eine riesige Versammlun­g von Wayang Kardus, lebensgroß­en Figuren aus bemalter Pappe, eine Demonstrat­ion gegen das Regime mit Blicken auf Ereignisse und Auswirkung­en.

Besonderes Augenmerk dürfte das WH22 auf sich ziehen. Dort stellt auch die palästinen­sische Gruppe The Question of Funding aus, an der sich eine Antisemiti­smusdebatt­e um die Documenta entzündete. Mohammed Al Hawajri kombiniert in seiner Serie „Guernica Gaza“Bilder von Angriffen der israelisch­en Armee auf das Palästinen­sergebiet mit Motiven von Millet, Delacroix, Chagall oder van Gogh.

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FOTOS (3): MARTIN MEISSNER/AP Die Documenta gilt neben der Biennale in Venedig als wichtigste Präsentati­on von Gegenwarts­kunst.
 ?? ?? Christine Falk mit thailändis­chen Schattenpu­ppen.
Christine Falk mit thailändis­chen Schattenpu­ppen.
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Ein Werk des kenianisch­en Künstlers Shabby Mwangi.

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