Kurzfristig mit mehr Kohle gegen die Gasknappheit
Die Sorge vor Lieferengpässen wächst. Doch der verstärkte Einsatz von fossilen Brennstoffen schmerzt besonders die Grünen.
BERLIN Mit der lange befürchteten und nun eingetretenen Drosselung der russischen Gaslieferungen nehmen die Sorgen vor Energieengpässen in Deutschland zu. Bundeswirtschaftsminister Robert Habeck (Grüne) sprach von einer „angespannten, ernsten Lage“. Der russische Staatskonzern Gazprom hatte seine Gaslieferungen durch die Ostseepipeline Nord Stream 1 inzwischen um 60 Prozent reduziert. Noch schlagen die Auswirkungen nicht voll durch, mit der nächsten Heizperiode könnten allerdings größere Probleme kommen: „Entscheidend ist, dass die Gasspeicher zum Winter hin gefüllt sind – und zwar bei 90 Prozent liegen“, sagte Habeck am Sonntagabend im ZDF. Derzeit seien es 57 Prozent.
Um die Einspeicherung zu sichern, soll es über die staatliche KfW-Förderbank eine neue Kreditlinie in Höhe von 15 Milliarden Euro geben, die bis 2025 befristet werden soll. Daneben soll es Anreize für die Industrie geben, den Energieverbrauch zu senken. Über ein Gasauktionsmodell soll es Industrieunternehmen möglich werden, nicht verbrauchte Gasmengen zur Verfügung zu stellen, damit diese eingespeichert werden können. Die Entgelte dafür sollen über den Markt finanziert werden, die genauen Kriterien dafür standen am Montag noch nicht fest. Schließlich soll kurzfristig mehr Kohle verstromt werden, um den Einsatz von Gas bei der Stromerzeugung zu reduzieren. Dafür sollen Kohlekraftwerke länger in der Reserve gehalten werden können, um schnell betriebsbereit zu sein. Es handle sich um eine kurzfristige Maßnahme, die bis 2024 begrenzt sei, sagte ein Sprecher des Wirtschaftsministeriums am Montag in Berlin.
Dennoch stellt dieser Schritt des Wirtschafts- und Klimaschutzministers der Grünen besonders dessen Partei vor eine schwere Abwägung. Mit Blick auf die Klimakrise und ihre akuten Folgen mit verheerenden Waldbränden in Brandenburg am vergangenen Wochenende sagte Grünen-Co-Chef Omid Nouripour am Montag: „Umso schmerzhafter ist es, dass wir jetzt weiter Kohle verstromen.“Der wirtschaftspolitische
Sprecher der Grünen im Bundestag, Dieter Janecek, stellte diesen Schritt dennoch als notwendig dar: „Niemand hat sich gewünscht, dass wir Kohlekraftwerke als Reservekapazität hochfahren müssen, um mehr Gas raus aus der Verstromung hinein in die Speicher zu kriegen, aber nur so gewährleisten wir Versorgungssicherheit im kommenden Winter für Haushalte und Industrie“, sagte Janecek unserer Redaktion. Gleichzeitig erhöhe man „drastisch das Tempo beim Ausbau der Erneuerbaren“und setze alle Hebel in Bewegung, um mehr Energie einzusparen. Am Kohleausstieg bis 2030, wie ihn der Koalitionsvertrag vorsieht, halten die Grünen wie auch das Ministerium weiter fest.
Die Organisation Agora Energiewende
mahnt, dass der verstärkte Kohleeinsatz „allenfalls eine kurzfristige Notfallmaßnahme“sein dürfe. Diese müsse „durch ambitioniertere Effizienzmaßnahmen für die Wärmewende und einen schnelleren Ausbau der erneuerbaren Energien kompensiert werden, damit die Klimaziele auch in dieser Krise erreicht werden und der Kohleausstieg bis 2030 umgesetzt werden kann“, sagte Simon Müller, Direktor der Deutschlandarbeit der Organisation, unserer Redaktion. Die Regierung müsse mit der Bevölkerung und der Industrie alle Kräfte bündeln: „Jede Wärmepumpe, jede Solarzelle und jedes Windrad machen uns unabhängiger von fossilen Energieimporten und helfen uns, unser 2030-Klimaziel zu erreichen.“