In Erklärungsnot
Eine wachsende Zahl von Missbrauchsgutachten und wenig Konsequenzen: Viele Entscheidungen der katholischen Kirche sind den Menschen zunehmend unbegreiflich. Auch das trägt zum umfassenden Glaubwürdigkeits- und Vertrauensverlust bei.
Nach dem Missbrauchsgutachten ist vor dem Missbrauchsgutachten. Das klingt erst einmal arg salopp für Studien, die die moralischen Abgründe der katholischen Kirche untersuchen und öffentlich machen. Und doch spiegelt es wider, dass in Abständen von Wochen eine deutsche Diözese nach der anderen ihre Untersuchung publik macht. Demnächst werden Studien aus Mainz, Trier und Essen erwartet; in anderen Bistümern wurden unabhängige Untersuchungen noch gar nicht angekündigt, wie etwa in Fulda, Eichstätt, Augsburg und Passau.
Die chronologische Streckung mag nützlich erscheinen, um Missstände anprangern und die Dringlichkeit von Lösungen wachzuhalten. Doch die immer neuen Zahlen von Tätern, Taten und Betroffenen sowie die Pflichtverletzungen der Verantwortlichen führen zu einer anhaltenden Skandalisierung, die kaum wirksame Lösungsschritte initiiert. Schlimmer noch: Obwohl die Deutsche Bischofskonferenz Richtlinien für Studien erarbeitet hat, setzt jedes Bistum eigene Schwerpunkte mit eigenen Methoden. Oft sind Juristen am Werk, mal Soziologen, ein anderes Mal Historiker. Mal arbeiten diese mit den Bistümern zusammen, mal sind sie vollständig unabhängig. Das erweitert nicht den Blick, sondern liefert ein völlig diffuses Bild. Vergleichen lassen sich die Studien nicht.
Einen großen Schritt zurück mit der Frage: Was zählt zu den zentralen Aufgaben der Kirche? Das ist die Verkündigung des Evangeliums, die Weitergabe des Glaubens. Anders formuliert: Die glaubwürdige Kommunikation ist ihr Kerngeschäft, und das seit mehr als 2000 Jahren. Genau in diesem Punkt zeigt die Kirche nicht nur gravierende Schwächen; sie versagt auf vielen Ebenen und trägt auch damit zu einem eklatanten Verlust ihrer Glaubwürdigkeit und Relevanz bei. Die neuen, bundesweiten Austrittszahlen, die Ende Juni bekannt gegeben werden, liefern dazu die Belege. Dazu fünf Beispiele.
Der „Fall Woelki“
Er offenbart das ganze Kommunikationsdesaster der Kirche. Das plötzliche Zurückhalten des ersten Missbrauchsgutachtens 2020 wegen „äußerungsrechtlicher Bedenken“, die Instrumentalisierung des Betroffenenbeirats sowie die Bestellung eines zweiten Gutachtens haben das Vertrauen in die Leitung des Bistums weitgehend zerrüttet. Geschehen ist anschließend kaum etwas: Rom schickte im vergangenen Sommer zwei Visitatoren nach Köln, der Erzbischof ging in eine fünfmonatige geistliche Auszeit und bot nach seiner Heimkehr am 2. März seinen Rücktritt an. Rom entschied nichts, und so ist aus dem „Fall Woelki“auch der „Fall Franziskus“geworden.
Der „Fall Franziskus“
Was in Rom zum Erzbistum vorliegt: der Bericht der beiden Visitatoren, der Bericht von Weihbischof Steinhäuser, der den Erzbischof in der Auszeit vertrat, das Rücktrittsgesuch Woelkis. An Informationen mangelt es nicht. Stattdessen deutet Franziskus kürzlich in einem Interview eine mögliche zweite Visitation zu offenen Finanzfragen an und erklärt, dass er dem Kardinal die Auszeit und den Rücktritt empfohlen habe. Woelkis Aussagen klangen zuvor anders. Auch so können Amtsträger demontiert werden. Aber: Kardinäle sind keine „Abteilungsleiter“der Kirche, sie gehören zur „Geschäftsführung“. Außerdem: Sollte Woelki zurücktreten müssen, wäre er der erste Bischof, dem bislang keine Pflichtverletzungen in der Missbrauchsaufklärung nachgewiesen wurden. Anders als bei Kardinal Marx, Erzbischof Heße sowie den Weihbischöfen Schwaderlapp und Puff, die allesamt im Amt verbleiben durften. Das zu vermitteln, ist schwierig.
Keine Rücktritte
In Deutschland musste noch kein Bischof seinen Hut nehmen, weil er sich im Umgang mit Missbrauchsfällen Fehler leistete. Der letzte Rücktritt stammt aus dem Jahr 2014, als Franz-Peter Tebartz-van Elst wegen eines Finanzskandals von seinen Pflichten als Bischof von Limburg entbunden wurde. Dass Rom auch unklare Finanzierungen im Erzbistum – etwa die der Kölner Hochschule für Katholische Theologie – unter die Lupe nimmt, könnte also folgenreicher werden. Auch dieser Rücktrittsgrund wäre inmitten des umfassenden Missbrauchsskandals letztlich ein Desaster.
Jüngstes Gutachten: Münster
Die Studie im Bistum Münster darf als wegweisend bezeichnet werden. Ein Forschungsteam der dortigen Uni hatte freien Zugang zu allen Akten
und entschied selbst, was, wann und wem die Ergebnisse präsentiert werden. Als Ursache für die Gewalttaten von fast 200 sogenannten Seelsorgern machten die Forscher das System aus: die Macht der Priester, ein überhöhter Klerikalismus und eine interne Kommunikation, die Aufklärung verhindert und Vertuschung begünstigt. Die Antworten von Bischof Felix Genn, der zu den Reformern zählt, geben darauf nur unzureichende Antworten: stärkere Einbindung der Gremien, nachvollziehbare Personalentscheidungen, durchschaubare Verwaltungsakte. Sicher: Das ist, was möglich ist, aber nicht, was zur Ursachenbekämpfung nötig ist. Dass der Zugang zu den Gräbern der früheren Münsteraner Bischöfe Lettmann, Tenhumberg und Keller vorerst geschlossen bleibt, da ihnen „schwere Fehler“im Umgang mit Missbrauch bescheinigt wurden, ist eine Geste, die auf die Vergangenheit zielt, nicht auf die Zukunft.
Letzte Hoffnung: Synodaler Weg Auf die Zukunft von Kirche und Glauben zielen Reformbemühungen von Laien und Bischöfen beim Synodalen Weg. Ämter für Frauen, das priesterliche Leben, Hierarchie und Macht, die Sexualmoral – alles das sind Themen, über die engagierte Christen diskutieren. Wie lange noch? Am Ende wird Rom über vieles befinden. Und die Haltung des Heiligen Vaters ist: absolut unklar. Sowohl sein langes Schreiben ans pilgernde Gottesvolk in Deutschland als auch seine jüngsten Interview-Einlassungen werden sowohl von Reformbefürwortern als auch Reformgegnern für eigene Ziele ausgelegt. Ein klares Wort? Fehlanzeige. Stattdessen viel Poesie und Phrasen. Und wer entscheidet hierzulande? Auch das ist kommunikativ unbegreiflich: Obwohl die Bischöfe die Laien zu Reformüberlegungen gebeten haben und ihnen für deren Mittun dankbar sind, werden am Ende doch wieder sie entscheiden. Denn für jeden Beschluss der Synodalversammlung ist eine Zweidrittelmehrheit der anwesenden Bischöfe erforderlich. Reformpläne könnten somit von einer kleinen Minderheit jener Würdenträger blockiert werden, die für den Missbrauchsskandal eine Mitverantwortung tragen. Wer kann das erklären?