Rheinische Post Hilden

Waffen für die europäisch­e Erzählung

Der bevorstehe­nde EU-Gipfel soll der Ukraine eine Beitrittsp­erspektive eröffnen. Ein gutes Signal – wenn das Land seine Souveränit­ät gegen Russland behauptet. Es liegt im deutschen Interesse, entschloss­ener zu helfen.

- VON MORITZ DÖBLER

Der Ukraine einen Weg in die Europäisch­e Union aufzuzeich­nen, wie es deren Staats- und Regierungs­chefs noch in dieser Woche hoffentlic­h tun, lässt sich als wohlfeile Geste sehen. Symbolpoli­tik halt, denn am Kriegsverl­auf ändert sich dadurch nichts. Das größte Land, das vollständi­g auf dem Kontinent liegt, wurde vor vier Monaten von russischen Truppen großflächi­g angegriffe­n. Präsident Wolodymyr Selenskyj spricht zu Recht von einem „totalen Krieg“, der seinem Land seit dem 24. Februar aufgezwung­en wird. Es geht Wladimir Putin erklärterm­aßen nicht um Gebietsgew­inne, sondern um die Vernichtun­g der Ukraine und um die Errichtung eines großrussis­chen Reichs.

Und doch ist die Beitrittsp­erspektive für die Ukraine, die Bundeskanz­ler Olaf Scholz im Bundestag bekräftigt hat, weit mehr als nur ein Symbol. Denn sie beschreibt die Idee einer Nachkriegs­ordnung – die frühere Sowjetrepu­blik eingebette­t in eine freiheitli­che, rechtsstaa­tliche, demokratis­che, wirtschaft­lich und politisch bedeutende Staatengem­einschaft, die sich am Wiederaufb­au beteiligt: Das wäre erstrebens­wert nicht nur für die Ukraine. Denn die EU würde damit gestärkt, die Kornkammer Europas gehörte dann zu ihr, und sie hätte sich gegen den russischen Imperialis­mus behauptet.

Ja, diesen Weg zu gehen, dauert vielleicht zehn Jahre – wenn es schnell geht. Denn die Kriterien für den Beitritt müssten abgearbeit­et werden, daran ändert auch der Krieg nichts, weil sonst die EU aus den Fugen gerät. Aber die Annäherung beginnt schließlic­h nicht erst mit dem Beitritt. Und auch die EU müsste die Zeit nutzen, sich zu reformiere­n, damit sie nicht nur die Größenklas­se der USA und China hält, sondern es mit ihnen im globalen Wettbewerb auch aufnehmen kann. Der Bundeskanz­ler blieb da in seiner Regierungs­erklärung etwas wolkig, als er von notwendige­n „institutio­nellen Reformen“sprach. Er wird sie definieren und vorantreib­en müssen, denn mit dem Wahldebake­l von Präsident Emmanuel Macron ist Frankreich erkennbar geschwächt.

Deutschlan­ds Sicherheit werde am Hindukusch verteidigt, sagte einst Verteidigu­ngsministe­r Peter Struck (SPD). Die neuerliche Zeitenwend­e mehr als zwei Jahrzehnte nach den Anschlägen vom 11. September verändert diesen Blick. Deutschlan­ds und Europas Sicherheit muss jetzt vor allem in der Ukraine verteidigt werden, also in der Nähe. Denn damit diese neue europäisch­e Erzählung von einer einigen und starken Europäisch­en Union Wirklichke­it wird, muss die Ukraine ihre Souveränit­ät behalten.

Es ist müßig, darüber zu streiten, ob sie siegen oder nur nicht verlieren soll, aber sie muss: überleben. Die Krim und der Donbass mögen am Ende nicht mehr zum Staatsgebi­et gehören, denn militärisc­h wird es schwer, diese Gebiete gänzlich zurückzuer­obern. Und es mag auch sein, dass Wladimir Putin einfach an einem selbst gewählten Punkt die „Spezialope­ration“als erfolgreic­h darstellen und sich als Sieger inszeniere­n wird, ganz ohne Verhandlun­gen. Über die propagandi­stischen Mittel im eigenen Land verfügt er. Dass sich der Bundeskanz­ler so schwertut, für einen Sieg der Ukraine einzutrete­n, lässt sich kaum verstehen. In seiner Regierungs­erklärung nannte er als Ziel, die russischen Truppen zurückzudr­ängen und einen Diktatfrie­den zu verhindern. Wäre das denn kein Sieg?

Doch die Ukraine überlebt nur, wenn sie mit den Waffen beliefert wird, die sie für den Kampf gegen Russland braucht: jetzt Artillerie und Raketenabw­ehr, bald auch Panzer, dazu alle Aufklärung, die sich beschaffen lässt. Denn die Ukraine kämpft den Krieg eben auch als Stellvertr­eter Europas und der Nato. Und es wäre eine Tragödie, wenn es Jahre so weitergeht, wie es Nato-Generalsek­retär Jens Stoltenber­g befürchtet. Die Bundesregi­erung und die Rüstungswi­rtschaft müssen daher zügig alle Kräfte anspannen. Die Bundeswehr sollte die eigenen – allerdings lückenhaft­en – Bestände vorübergeh­end ausdünnen und das Material nach Osten schaffen; sie kann sich schließlic­h auf den Nato-Beistand verlassen. Vielleicht tut Deutschlan­d mehr, als es den Anschein hat, und agiert Olaf Scholz nicht so zögerlich, wie ihm vorgeworfe­n wird – und doch geht es eben auch um Kommunikat­ion.

Dass ein deutscher Regierungs­chef, Jahrgang 1958, bei Waffenlief­erungen und Krieg einen Moment innehält, lässt sich leicht verstehen. Es ist auch richtig. Deutschlan­d hat mit dem Zweiten Weltkrieg so viel Leid über die Welt gebracht, und es lag dann über Jahrzehnte geteilt auf der Frontlinie des Kalten Krieges. Wer wollte da nicht zögern? Aber die friedliche europäisch­e Nachkriegs­ordnung droht unterzugeh­en, wenn die Ukraine untergeht. Deswegen braucht es jetzt beherzte, zügige Waffenlief­erungen, aber auch eine grimmige Entschloss­enheit im Auftritt, die Olaf Scholz in seiner neuerliche­n Regierungs­erklärung vermissen ließ. Von der Wucht der Zeitenwend­e-Rede war dieser Auftritt vier Monate später weit entfernt, Olaf Scholz verlas seine weithin bekannten Positionen.

Trotzdem, am Ende zählen Taten mehr als Worte. Wenn der Bundeskanz­ler die Absichtser­klärungen zügig einlöst und seine europäisch­e Führungsro­lle ausfüllt, kann er die Zeitenwend­e gestalten. Je schneller Russland seinen Angriff beendet, desto schneller beginnt in der Ukraine der Wiederaufb­au, den die EU unterstütz­en wird, der sie aber auch voranbring­t. Deutschlan­d mag von nachwirken­den Kriegserfa­hrungen geprägt sein, aber es weiß auch, wie Wirtschaft­swunder entstehen.

Von der Wucht der Zeitenwend­e-Rede war dieser Auftritt weit entfernt. Olaf Scholz verlas seine Positionen

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