Wozu die Maske nütze ist
Für den Epidemiologen Klaus Stöhr rundet nur eine Infektion mit dem Coronavirus den Impfschutz ab und optimiert ihn. Deshalb sei die Maskenpflicht derzeit wenig sinnvoll. Es gibt gute Argumente gegen diese Position.
Stellen wir uns für Sekunden vor, dass wir uns niemals wieder mit irgendeinem Keim anstecken. Kein Norovirus, das uns für Tage alle paar Minuten auf die Toilette zwingt. Kein Epstein-Barr-Virus, dieses Chamäleon unter den Viren, das mit zahllosen Krankheiten in Verbindung gebracht wird. Würde uns das nicht etlicher Sorgen entheben?
Ganz sicher nicht. Denn ein Immunsystem, das nicht fortwährend mit Keimen konfrontiert wird, verliert seinen Trainingsschwung, seine aus Erinnerung geborene Sicherheit im Umgang mit Erregern. Auch die Corona-Pandemie hat mit ihren vielfältigen Schutzmaßnahmen manche Infektionskrankheiten fast zum Verschwinden gebracht, doch plötzlich tauchten sie wie aus dem Nichts wieder auf, etwa das RS-Virus, das im vergangenen Jahr deutlich früher auftrat und unerwartet viele Kinder erkranken ließ.
Nun hat der Virologe und Epidemiologe Klaus Stöhr ein Tabu der Infektionsmedizin gebrochen. Er hat die Abschaffung der Pflicht zum Maskentragen gefordert, wenigstens für den Sommer. Die jetzigen Rufe nach verschärften Maßnahmen hält er für verfrüht. „Der Ruf nach Maskentragen ist meines Erachtens ein ,Feuer, Feuer‘-Rufen. Und ich hoffe, dass man im Herbst dann immer noch auf denjenigen hört, der das ruft, denn dann wird man es wieder brauchen.“
Stöhr findet Masken also wichtig und hilfreich, er bestreitet auch nicht ihren Sinn. Andererseits weist er darauf hin, dass der langandauernde Schutz für jede Person erst durch die Infektion komme, weil sie die sogenannte T-Zell-Immunität auf eine entscheidende Stufe hebt. Stöhrs Argumentation gipfelt in diesem Satz: „Wer jetzt nach
Masken ruft, der nimmt auch den Menschen die Gelegenheit, sich langfristig mit dem Coronavirus zu arrangieren.“
Das ist wie hartes Segeln am Wind. Es kann funktionieren. Es kann aber auch viele Leute auf einen Schlag erkranken lassen und das Leben lahmlegen, auch die Wirtschaft, die das nicht gebrauchen kann – denn Omikron BA.4 und BA.5 sind wie Omikron BA.1, aber mit abermals verschärftem Turbo. Diesen Varianten, jüngste Geschwister des an sich gutmütigen, aber nicht gänzlich harmlosen OmikronStamms, kann man momentan beim Siegen zuschauen. Natürlich gibt es auch viele milde Fälle, doch reihenweise liegen Leute flach und fühlen sich schlapp und antriebslos, mit Fieber und Gliederschmerzen. Mild sind ihre Verläufe allenfalls nach den Kategorien der Intensivmedizin, die alles missachtet, das nicht über 40 Grad Fieber hat und intubationspflichtig ist.
Wenn in dieser Zeit, in der auch der Dreifach-Impfschutz bei etlichen Leuten nachlassen dürfte und manche andere noch gar nicht oder unterimpft sind, das öffentliche Leben zur sinnvollen Corona-Party erklärt wird, kann das in die Hose gehen. „Infizieren Sie sich jetzt, damit Sie und wir es im Herbst guthaben“– will Stöhr dieses Motto predigen? Andere Fachleute lesen seine Gedanken jedenfalls mit Befremden. „Ich kenne keine Infektionskrankheit, bei der es Sinn macht, sich absichtlich zu infizieren“, sagt Stefan Kluge, Chefarzt der Intensivstation am Universitätsklinikum Hamburg-Eppendorf.
Fraglos ist Stöhrs Forderung Wasser auf die Mühlen derer, denen die Masken von Anfang an suspekt waren und die ihre angebliche Nutzlosigkeit fortwährend beschworen haben. Dabei sind sie bei guter Qualität und korrektem Sitz alles andere als sinnlos, im Gegenteil. Etliche Studien haben ihre Effektivität bewiesen, etwa das Max-Planck-Institut
für Dynamik und Selbstorganisation. Mancher Rufer nach Erleichterung hat möglicherweise ein falsches Verständnis von Herdenimmunität, wie man sie von anderen Infektionskrankheiten kennt. Beim Coronavirus gibt es sie nämlich nur sehr eingeschränkt, weil weder die Impfung noch die Infektion eine dauerhafte sterile Immunität bewirken. Geimpfte und Genesene können sich weiter anstecken und das Virus auch weitergeben. So kann keine Mauer um vulnerable Gruppen herum entstehen, weil die Impfung vor allem den Selbstschutz vor schweren Verläufen fördert.
Stöhrs Appell, im Sommer die Maske in den Wind zu hängen, hat zudem zwei medizinische Haken: Er vergisst das Phänomen der Mehrfachinfektion, das für Corona nicht untypisch ist. Wer sich im Sinne Stöhrs heute mit BA.1 ansteckt (diese Variante befindet sich weiterhin in Zirkulation), kann nicht sicher sein, dass er sich nicht fünf Wochen später bereits mit BA.5 ansteckt. Woran das liegt? Maskenlose bekommen in der Regel die volle Virusdosis ihres Gegenübers ab. Und BA.4 und BA.5. sind bislang die weitaus aggressivsten Mutanten. Viele Infizierte wissen gar nicht, wo sie sich angesteckt haben.
Und dann gibt es bei jeder Corona-Infektion noch die Long- und Post-CovidDimension, die bei Geimpften und bei Omikron zwar schwächer ausfällt, aber keineswegs gebannt ist. Solange niemand weiß, ob das Virus sich wirklich durch Harmlosigkeit aus der Welt verabschiedet, sollte jene Kategorie nicht vollends abgeschafft werden, die uns in der Pandemie doch viele Todesfälle erspart hat: die Vorsicht. Und das Tragen einer sehr guten Maske ist hier neben der Impfung die allererste Maßnahme. Auch auf der Zugfahrt nach Hamburg. Alles ist besser, als dass der Betrieb wieder heruntergefahren wird.
Wir werden uns dauerhaft mit Keimen anstecken. Aber bei manchen sollte man den Positiv-Strich auf dem Schnelltest nicht herausfordern.
BA.4 und BA.5 sind die bislang aggressivsten Varianten des Coronavirus – gute Masken halten sie in Schach