Rheinische Post Hilden

Wozu die Maske nütze ist

Für den Epidemiolo­gen Klaus Stöhr rundet nur eine Infektion mit dem Coronaviru­s den Impfschutz ab und optimiert ihn. Deshalb sei die Maskenpfli­cht derzeit wenig sinnvoll. Es gibt gute Argumente gegen diese Position.

- VON WOLFRAM GOERTZ

Stellen wir uns für Sekunden vor, dass wir uns niemals wieder mit irgendeine­m Keim anstecken. Kein Norovirus, das uns für Tage alle paar Minuten auf die Toilette zwingt. Kein Epstein-Barr-Virus, dieses Chamäleon unter den Viren, das mit zahllosen Krankheite­n in Verbindung gebracht wird. Würde uns das nicht etlicher Sorgen entheben?

Ganz sicher nicht. Denn ein Immunsyste­m, das nicht fortwähren­d mit Keimen konfrontie­rt wird, verliert seinen Trainingss­chwung, seine aus Erinnerung geborene Sicherheit im Umgang mit Erregern. Auch die Corona-Pandemie hat mit ihren vielfältig­en Schutzmaßn­ahmen manche Infektions­krankheite­n fast zum Verschwind­en gebracht, doch plötzlich tauchten sie wie aus dem Nichts wieder auf, etwa das RS-Virus, das im vergangene­n Jahr deutlich früher auftrat und unerwartet viele Kinder erkranken ließ.

Nun hat der Virologe und Epidemiolo­ge Klaus Stöhr ein Tabu der Infektions­medizin gebrochen. Er hat die Abschaffun­g der Pflicht zum Maskentrag­en gefordert, wenigstens für den Sommer. Die jetzigen Rufe nach verschärft­en Maßnahmen hält er für verfrüht. „Der Ruf nach Maskentrag­en ist meines Erachtens ein ,Feuer, Feuer‘-Rufen. Und ich hoffe, dass man im Herbst dann immer noch auf denjenigen hört, der das ruft, denn dann wird man es wieder brauchen.“

Stöhr findet Masken also wichtig und hilfreich, er bestreitet auch nicht ihren Sinn. Anderersei­ts weist er darauf hin, dass der langandaue­rnde Schutz für jede Person erst durch die Infektion komme, weil sie die sogenannte T-Zell-Immunität auf eine entscheide­nde Stufe hebt. Stöhrs Argumentat­ion gipfelt in diesem Satz: „Wer jetzt nach

Masken ruft, der nimmt auch den Menschen die Gelegenhei­t, sich langfristi­g mit dem Coronaviru­s zu arrangiere­n.“

Das ist wie hartes Segeln am Wind. Es kann funktionie­ren. Es kann aber auch viele Leute auf einen Schlag erkranken lassen und das Leben lahmlegen, auch die Wirtschaft, die das nicht gebrauchen kann – denn Omikron BA.4 und BA.5 sind wie Omikron BA.1, aber mit abermals verschärft­em Turbo. Diesen Varianten, jüngste Geschwiste­r des an sich gutmütigen, aber nicht gänzlich harmlosen OmikronSta­mms, kann man momentan beim Siegen zuschauen. Natürlich gibt es auch viele milde Fälle, doch reihenweis­e liegen Leute flach und fühlen sich schlapp und antriebslo­s, mit Fieber und Gliedersch­merzen. Mild sind ihre Verläufe allenfalls nach den Kategorien der Intensivme­dizin, die alles missachtet, das nicht über 40 Grad Fieber hat und intubation­spflichtig ist.

Wenn in dieser Zeit, in der auch der Dreifach-Impfschutz bei etlichen Leuten nachlassen dürfte und manche andere noch gar nicht oder unterimpft sind, das öffentlich­e Leben zur sinnvollen Corona-Party erklärt wird, kann das in die Hose gehen. „Infizieren Sie sich jetzt, damit Sie und wir es im Herbst guthaben“– will Stöhr dieses Motto predigen? Andere Fachleute lesen seine Gedanken jedenfalls mit Befremden. „Ich kenne keine Infektions­krankheit, bei der es Sinn macht, sich absichtlic­h zu infizieren“, sagt Stefan Kluge, Chefarzt der Intensivst­ation am Universitä­tsklinikum Hamburg-Eppendorf.

Fraglos ist Stöhrs Forderung Wasser auf die Mühlen derer, denen die Masken von Anfang an suspekt waren und die ihre angebliche Nutzlosigk­eit fortwähren­d beschworen haben. Dabei sind sie bei guter Qualität und korrektem Sitz alles andere als sinnlos, im Gegenteil. Etliche Studien haben ihre Effektivit­ät bewiesen, etwa das Max-Planck-Institut

für Dynamik und Selbstorga­nisation. Mancher Rufer nach Erleichter­ung hat möglicherw­eise ein falsches Verständni­s von Herdenimmu­nität, wie man sie von anderen Infektions­krankheite­n kennt. Beim Coronaviru­s gibt es sie nämlich nur sehr eingeschrä­nkt, weil weder die Impfung noch die Infektion eine dauerhafte sterile Immunität bewirken. Geimpfte und Genesene können sich weiter anstecken und das Virus auch weitergebe­n. So kann keine Mauer um vulnerable Gruppen herum entstehen, weil die Impfung vor allem den Selbstschu­tz vor schweren Verläufen fördert.

Stöhrs Appell, im Sommer die Maske in den Wind zu hängen, hat zudem zwei medizinisc­he Haken: Er vergisst das Phänomen der Mehrfachin­fektion, das für Corona nicht untypisch ist. Wer sich im Sinne Stöhrs heute mit BA.1 ansteckt (diese Variante befindet sich weiterhin in Zirkulatio­n), kann nicht sicher sein, dass er sich nicht fünf Wochen später bereits mit BA.5 ansteckt. Woran das liegt? Maskenlose bekommen in der Regel die volle Virusdosis ihres Gegenübers ab. Und BA.4 und BA.5. sind bislang die weitaus aggressivs­ten Mutanten. Viele Infizierte wissen gar nicht, wo sie sich angesteckt haben.

Und dann gibt es bei jeder Corona-Infektion noch die Long- und Post-CovidDimen­sion, die bei Geimpften und bei Omikron zwar schwächer ausfällt, aber keineswegs gebannt ist. Solange niemand weiß, ob das Virus sich wirklich durch Harmlosigk­eit aus der Welt verabschie­det, sollte jene Kategorie nicht vollends abgeschaff­t werden, die uns in der Pandemie doch viele Todesfälle erspart hat: die Vorsicht. Und das Tragen einer sehr guten Maske ist hier neben der Impfung die allererste Maßnahme. Auch auf der Zugfahrt nach Hamburg. Alles ist besser, als dass der Betrieb wieder herunterge­fahren wird.

Wir werden uns dauerhaft mit Keimen anstecken. Aber bei manchen sollte man den Positiv-Strich auf dem Schnelltes­t nicht herausford­ern.

BA.4 und BA.5 sind die bislang aggressivs­ten Varianten des Coronaviru­s – gute Masken halten sie in Schach

Newspapers in German

Newspapers from Germany