Die EU freut sich auf die Ukraine
Das Land wird offiziell zum Beitrittskandidaten. Doch auf dem Gipfel in Brüssel gibt es Ärger – weil andere Staaten schon lange warten.
BRÜSSEL Es steht eigentlich schon am Morgen so gut wie fest, und auch Bundeskanzler Olaf Scholz nimmt bereits das Wort „historisch“in den Mund: Damit gemeint ist die anstehende Entscheidung, der Ukraine und Moldawien bei diesem EUGipfel am Donnerstag in Brüssel den Status offizieller Beitrittskandidaten zu verleihen. Doch bis EURatspräsident Charles Michel am Abend eine „Einigung“verkünden und den Menschen in der Ukraine und in Moldawien zu diesem Schritt gratulieren kann, vergehen elf Stunden, die für die Staats- und Regierungschefs lang und länger – und vor allem quälend werden.
Denn vor der Freude über das Versprechen an zwei neue Länder, EUMitglieder werden zu dürfen, versinkt der EU-Gipfel in furchtbaren Frust darüber, seine zum Teil bereits vor 17 Jahren gegebenen ähnlichen Versprechen an überzeugte Europäer auf dem westlichen Balkan immer noch nicht geliefert zu haben. Das schlechte Gewissen bestimmt daher die ersten Stunden des Gipfels, als sich die Repräsentanten der Mitglieder mit den Vertretern der Immer-noch-nicht-Mitglieder zum vorgeschalteten Westbalkan-EUGipfel treffen. Nicht mehr länger hinnehmbar sei diese Hinhaltetaktik für die Menschen in Nordmazedonien, sagt Ministerpräsident Dimitar Kovacevski. „Unsere Bürger lieben Europa und sie haben alles getan“, erklärt er verärgert.
Die an den nordmazedonischen Beitrittsprozess angedockten Albanier werden in Person ihres Ministerpräsidenten Edi Rama noch drastischer: Er nennt es eine „Schande“, dass ein Nato-Land zwei andere Nato-Länder in Geiselhaft nehme. Gemeint damit ist Bulgarien, das die Aufnahme von Beitrittsgesprächen mit Nordmazedonien und Albanien blockiert. Sofia will zuvor vom kleinen Nachbarn Zugeständnisse bei Sprache, Geschichtsschreibung und bulgarischen Minderheiten durchsetzen. Frankreich hatte einen Kompromiss vorgeschlagen, mit dem das bulgarische Parlament die Blockade gegen Nordmazedonien hätte aufheben können. Doch am Vorabend fiel die Regierung in Sofia einem Misstrauensvotum zum Opfer, geriet das Land in innenpolitisches
Chaos. „Wir sind nicht da, wo wir sein sollten“, stellt denn auch EUAußenbeauftragter Josep Borrell am Morgen fest.
Vor den Türen demonstrieren viele Ukrainer mit blau-gelben Fahnen. Erkennbar nicht auf sie gemünzt, sagt er: „Heute ist kein guter Tag.“Kurz zuvor hat der Albaner Rama mit Blick auf die in der Morgensonne von Brüssel stehenden Ukrainer bereits betont: „Das ist ein neuer Tag in Europa, aber nicht in Bulgarien.“Nach dem EU-Westbalkan-Gipfel erinnert er am Nachmittag verbittert daran, dass Nordmazedonien sogar seinen Namen gewechselt habe, um EU-Mitglied werden zu können. „Hätte Frankreich das gemacht, hätte Italien das gemacht?“, fragt er anklagend.
Bundeskanzler Olaf Scholz hat ebenfalls größtes Verständnis für den Frust auf dem westlichen Balkan. Und er nimmt sich auch selbst in die Pflicht: „Wir fühlen uns verantwortlich dafür, dass diese Länder mit ihren Bemühungen Erfolg haben.“Sechs Stunden später hat es keinen Erfolg gegeben. Nur mehr Verbitterung. Am Nachmittag würdigt Rama die Bemühungen von Scholz und dem niederländischen Regierungschef Mark
Rutte, auf Bulgarien einzuwirken. Für den Niederländer gibt es eine 50- bis 60-prozentige Chance auf einen Durchbruch in Bulgarien in der nächsten Woche Bulgariens Ministerpräsident Kiril Petkow spricht ebenfalls von einer „sehr bald“anstehenden Entscheidung. Vorsichtshalber warnen die Regierungschefs vom Westbalkan die Ukraine und Moldau, sich keine Illusionen darüber zu machen, wie lang der Weg zur Aufnahme in die EU sein könne.
Zum Auftakt des EU-Gipfels sagt Parlamentspräsidentin Roberta Metsola: „Es ist Zeit.“Der Kandidaten-Status für die Ukraine würde beide Seiten stärken, das von Russland angegriffene Land und die EU. „Das ist eine Entscheidung, die gerechtfertigt, die nötig und die möglich ist“, betont sie – und sagt, dass darüber rund um den Gipfeltisch Einigkeit bestehe. Doch es dauert. Denn offenbar steckt etlichen Gipfelteilnehmern die Westbalkan-Debatte zuvor noch in den Knochen. Sie überlegen dem Vernehmen nach, auch Bosnien den Kandidatenstatus zu erteilen. So zieht sich die Entscheidung erneut. Am Ende sind es die Ukraine in Moldawien, die ihn bekommen: „Ein historischer Augenblick“, sagt Michel.