Zwischen Abschwung und Rezession
Bundesfinanzminister Christian Lindner (FDP) hat wegen der Energieknappheit vor einer mehrjährigen, „ernst zu nehmenden Wirtschaftskrise“gewarnt. Dies wäre noch schmerzhafter und folgenreicher als ein kurzfristiger Konjunktureinbruch. Hier die Szenarien.
Bundesfinanzminister Christian Lindner (FDP) hat offen ausgesprochen, wovor sich derzeit viele Vertreter von Wirtschaft und Politik fürchten: „Meine Sorge ist, dass wir in einigen Wochen und Monaten eine sehr besorgniserregende Situation haben könnten“, sagte Lindner im ZDF. Es gehe um drei bis vier, möglicherweise fünf Jahre Energieknappheit. „Es besteht die Gefahr einer sehr ernst zu nehmenden Wirtschaftskrise aufgrund der stark gestiegenen Energiepreise, aufgrund der Lieferkettenprobleme, aufgrund der Inflation“, so der FDP-Chef.
Eine „ernst zu nehmende Wirtschaftskrise“– das wäre schmerzhafter, kostspieliger und folgenreicher als eine kurzfristige Rezession in diesem Herbst – als ein bloßer Konjunktureinbruch also, der rasch wieder überwunden werden könnte. Eine Wirtschaftskrise würde länger andauern, wahrscheinlich über mehrere Jahre, wie auch Lindner erklärte. Sie könnte tiefe strukturelle Umbrüche in der Industrie auslösen, verbunden mit Wohlstands-, Wachstums- und Jobverlusten. Der Staat könnte infolgedessen weniger Steuern einnehmen als erwartet, der Verteilungsspielraum für soziale Leistungen würde geringer.
Noch ist es allerdings nicht so weit: In ihren Konjunkturprognosen für das laufende und für das kommende Jahr erwarten die meisten Ökonomen nach wie vor eine Wirtschaft, die wächst – wenn auch mit deutlich geringeren Raten als noch vor einigen Wochen. Doch mit jedem weiteren Kriegstag in der Ukraine und jedem weiteren Schritt des Kreml-Herrschers Wladimir Putin, der sein Gas als Waffe gegen die Europäer einsetzt, rückt Deutschland einer Rezession im zweiten Halbjahr ein bisschen näher. Sie würde per Definition bereits eintreten, wenn die Wirtschaftsleistung zwei Quartale hintereinander schrumpft. Oft ist eine solche „technische Rezession“für die Menschen kaum spürbar, wenn der Arbeitsmarkt robust bleibt und keine Entlassungen in größerem Umfang anstehen.
Eine tiefe Krise dagegen würde wohl ausgelöst, wenn Putin den Gashahn schlagartig komplett zudrehen würde. Ein solches Szenario trete dann ein, wenn „Produktionsstrukturen im großen Stil nicht mehr marktfähig sind und umgebaut werden müssen. Das ist schlimmer als eine herkömmliche Rezession, weil eine solche Anpassungskrise länger andauert und kostspieliger für uns alle ist“, warnt Stefan Kooths, Vize-Präsident des Kieler Instituts für Weltwirtschaft (IfW). „Ein Wegfall der sicheren Gasversorgung für die Industrie wäre ein solcher Krisenauslöser, ebenso wie ein dauerhaft kräftiger Preisanstieg von Gas gegenüber anderen Weltregionen“, so Kooths. „Dann wäre der Anpassungsdruck
in der deutschen Industrie enorm hoch. Eine solche Krise könnte Jahre dauern, weil die Neuausrichtung der Produktion Zeit braucht. Sie würde insbesondere mit Produktionsschließungen und Jobverlusten in größerem Umfang einhergehen“, prognostiziert der Ökonom.
Krisenanfällig ist die deutsche Wirtschaft, weil auf sie ohnehin enorme Herausforderungen zukommen, die sich durch den Ukraine-Krieg noch verstärken. „Wir hatten zwischen 2006 und 2016 ein goldenes Jahrzehnt, jetzt steuern wir wohl auf ein verlorenes Jahrzehnt zu. Denn wir stehen vor einer Fülle struktureller Herausforderungen, die das Wirtschaftswachstum für eine längere Zeit belasten werden: Demografie, Dekarbonisierung, Deglobalisierung und Defizite in der Infrastruktur wirken sich negativ aus“, sagt Andreas Scheuerle, Deutschlandexperte der Dekabank. Noch aber habe die Politik
Möglichkeiten, das Schlimmste abzuwenden – etwa durch die schnelle Beschaffung von alternativen Energielieferungen.
Ungut wirkt derzeit auch die hohe Inflation: Sie könnte sowohl kurzfristig eine Rezession herbeiführen als auch eine längere Krise vertiefen: „Durch die hohe Inflation sind die real verfügbaren Einkommen auf das Niveau von 2017 geschrumpft. Das heißt: Die Menschen werden ärmer. Die gefühlte Inflationsrate liegt viel höher als die statistisch gemessene, und zwar bei rund 20 Prozent“, so Scheuerle. Entsprechend würden die Menschen ihre Konsumnachfrage reduzieren. Einen noch größeren negativen Effekt hätte ein radikales Umsteuern der Europäischen Zentralbank: Würde sie ihre Zinsen schnell und stark anheben, würde die Investitionstätigkeit gestoppt – mit ernsten Folgen: „Inflation führt typischerweise über die notwendige Notenbankreaktion in eine Rezession“, betont IfW-Experte Kooths.