Vom Publikumsliebling zum Produkt
Die Nationalmannschaft hat lange die Fans hinter sich versammelt – und das über alle Vereinsgrenzen hinweg.Spätestens seit 2018 ist das anders. „Die Mannschaft“ist für viele nur noch eine Marke. Der Weg zurück zu wieder mehr Fan-Nähe ist noch lang.
DÜSSELDORF Als die Anzeichen der Krise, der tiefen Entfremdung zwischen Team und Publikum wirklich nicht mehr zu übersehen waren, da griff ein führender Funktionär des Deutschen Fußball-Bundes kräftig in die Schatzkiste der pathetischen Worthülsen. Ein Jahr nach der erschütternden Vorstellung bei der Weltmeisterschaft in Russland 2018 sagte der damalige Generalsekretär Friedrich Curtius: „Die Nationalmannschaft ist das letzte Lagerfeuer unserer Gesellschaft, diese Flamme möchten wir in alle Teile der Gesellschaft tragen.“
Tatsache aber war schon 2019, dass sich die Gesellschaft bei Spielen der DFB-Auswahl längst nicht mehr so bereitwillig ums Lagerfeuer versammelte. Die Zuschauerzahlen in den Stadien nahmen ab, die Quoten der TV-Anstalten sanken, das Team hatte offenkundig Kredit verspielt.
Oliver Bierhoff spielt dabei eine wesentliche Rolle. Als Spieler stand er für eine historische Stunde des deutschen Fußballs. Vor 26 Jahren entschied er mit seinem „Golden Goal“zum 2:1 in der Verlängerung das EM-Finale gegen Tschechien im Londoner Wembleystadion. Das war wahrhaftig einer jener LagerfeuerMomente. 73.611 Fans erlebten die Partie im Stadion, 32,21 Millionen am Fernseher. Bundestrainer Berti Vogts dirigierte die Begeisterungswelle vor der Kurve, und sein Satz „Der Star ist die Mannschaft“scharte die Nation hinter ein Team, das mit innerem Zusammenhalt einer bemerkenswerten Verletzungswelle trotzte. In der größten Not saßen die Ersatztorhüter Oliver Kahn und Oliver Reck in Feldspielertrikots auf der Bank.
Als Manager der Nationalmannschaft leistete Bierhoff zunächst wesentliche Beiträge zu einem Aufschwung nach Jahren des inzwischen sprichwörtlichen Rumpelfußballs der Jahrtausendwende. Der smarte Vermarkter regelte die geschäftliche und vertriebliche Seite des Sommermärchens. Und er steht auch noch für die Kampagne, die Deutschland zum bisher letzten großen Lagerfeuer-Moment führte. 2014 gewann die Mannschaft von Joachim Löw in Rio durch ein 1:0 im Finale gegen Argentinien den Weltmeistertitel. 34,65 Millionen Menschen versammelten sich vor Fernsehern und Videowänden. Es ist bis heute die größte Einschaltquote der Geschichte.
Bereits auf dem Weg dahin und vor allem in der Zeit danach erlag Bierhoff der Versuchung, den Goldesel des Verbands endgültig zum Produkt zu machen. Mit dem werblichen Gedöns konnten bereits viele nichts mehr anfangen, als Bierhoffs Abteilung den Markenbegriff „Die Mannschaft“ersann und den offiziellen Fanclub als Abteilung des Sponsors Coca-Cola betrieb. Spätestens als daraus zur Europameisterschaft 2016 in Frankreich das seltsam frankophile „La Mannschaft“wurde, war der Bogen überspannt. Und zerbrochen war er, als der DFB zur WM in Russland das Hashtag #ZSAMMN in die wunderbare Welt der Fußballwerbung setzte. Was sich liest, als habe ein bayerischer Programmierer nach dem Genuss von zu vielen alkoholischen Getränken geschrieben, wie er in diesem Zustand nun mal spricht, sollte künstlich einen Zusammenhalt zwischen Mannschaft und Fans herstellen.
Der aber war schon lange auf der Strecke geblieben. Das Team war keines, es war in einzelne Interessengruppen zerfallen, und so spielte es – uninspiriert, überheblich. Das Publikum wandte sich auch wegen des mangelnden sportlichen Erfolgs brüsk ab vom Kunstprodukt des DFB, und es fand in Mesut Özil seinen Sündenbock. Weil der Verband es versäumte, nach dem Absturz von 2018 einen konsequenten Neuaufbau in fußballerischer Hinsicht und im Blick auf die Außendarstellung zu betreiben, wurden die Bruchstellen immer größer. Hier stand ein Team, das offenkundig vor allem als Werbefläche dienen sollte, dort ein Publikum, das sich nur noch als Kundschaft begreifen konnte. Erst Löws Nachfolger Hansi Flick scheint, befeuert durch deutlich leidenschaftlicher vorgetragenen Fußball, eine neuerliche Hinwendung zu den Fans zu gelingen.
Sogar Bierhoff hat begriffen, was die Stunde geschlagen hat. Weil für große Teile der Öffentlichkeit mit dem Vermarktungsbegriff „Die Mannschaft“das Unheil einen Namen bekommen hat, geht der inzwischen zum Direktor aufgestiegene Manager auf vorsichtige Distanz zu den Ergebnissen der eigenen Marktforschung. „Der Begriff „Die Mannschaft“polarisiert, das weiß ich. Aber es muss sachliche Gründe geben, ihn abzuschaffen, nicht nur emotionale“, sagte er dem Magazin „Der Spiegel“. Bezeichnend, dass Bierhoff von emotionalen Begründungen offensichtlich nichts hält, wo doch Emotion das große Gefühl am Lagerfeuer ist. Damit ist bereits das grundsätzliche Problem beschrieben.
Wird es noch einmal, wie es war? Sicher nicht. Der professionelle Sport als Teil der Unterhaltungsindustrie kann nicht mehr sein wie 1954, als ein ganzes Land im „Wunder von Bern“ein Licht in grauer Nachkriegszeit gewann. Aber der deutsche Fußball kann sich an seine Bedeutung erinnern – gerade vor dem Hintergrund eines gnadenlosen Kapitalismus, der seinen vorläufigen Höhepunkt in der Vergabe der WM nach Katar fand. In ein Land, in dem Menschenrechte eine untergeordnete Rolle spielen, das jedoch die Dollars für den Weltverband Fifa rollen lassen wird wie nie zuvor.
Aus dem Blickwinkel des Sommers 2022 senden die Ergebnisse einer neun Jahre alten Studie geradezu romantische Botschaften. Die Denkfabrik mit dem eindrucksvollen Namen „Institute for Sports, Business and Society der EBS Universität für Wirtschaft und Recht“in Oestrich-Winkel schloss aus einer Befragung, die Nationalmannschaft sei in einer Zeit, „in der tradierte gesellschaftliche, politische und soziale Institutionen an Bedeutung verlieren dank ihrer hohen Sympathiewerte und ihrer enormen gesellschaftlichen Reichweite ein Fels in der Brandung“. 95 Prozent der Befragten hielten das Team für „vorbildlich“. Dieses Ergebnis veröffentlichte der Verband natürlich sehr gern. Jüngere Umfragen belegen zumindest, dass die Vermarktung der DFB-Elf nicht jedem gefällt. Bei der Votingapp FanQ urteilten jüngst 76,1 Prozent der Befragten, der Slogan „Die Mannschaft“sei negativ.
Also müssen einstweilen die fußballerische Leistung und der Auftritt auf dem Platz die Fans zurückbringen. Das 5:2 in Mönchengladbach gegen Italien sahen Mitte Juni immerhin knapp neun Millionen TVZuschauer. Bis zu den Werten von Rio 2014 ist es noch ein weiter Weg. Bis zum Lagerfeuer erst recht.