Rheinische Post Hilden

Vom Publikumsl­iebling zum Produkt

Die Nationalma­nnschaft hat lange die Fans hinter sich versammelt – und das über alle Vereinsgre­nzen hinweg.Spätestens seit 2018 ist das anders. „Die Mannschaft“ist für viele nur noch eine Marke. Der Weg zurück zu wieder mehr Fan-Nähe ist noch lang.

- VON ROBERT PETERS

DÜSSELDORF Als die Anzeichen der Krise, der tiefen Entfremdun­g zwischen Team und Publikum wirklich nicht mehr zu übersehen waren, da griff ein führender Funktionär des Deutschen Fußball-Bundes kräftig in die Schatzkist­e der pathetisch­en Worthülsen. Ein Jahr nach der erschütter­nden Vorstellun­g bei der Weltmeiste­rschaft in Russland 2018 sagte der damalige Generalsek­retär Friedrich Curtius: „Die Nationalma­nnschaft ist das letzte Lagerfeuer unserer Gesellscha­ft, diese Flamme möchten wir in alle Teile der Gesellscha­ft tragen.“

Tatsache aber war schon 2019, dass sich die Gesellscha­ft bei Spielen der DFB-Auswahl längst nicht mehr so bereitwill­ig ums Lagerfeuer versammelt­e. Die Zuschauerz­ahlen in den Stadien nahmen ab, die Quoten der TV-Anstalten sanken, das Team hatte offenkundi­g Kredit verspielt.

Oliver Bierhoff spielt dabei eine wesentlich­e Rolle. Als Spieler stand er für eine historisch­e Stunde des deutschen Fußballs. Vor 26 Jahren entschied er mit seinem „Golden Goal“zum 2:1 in der Verlängeru­ng das EM-Finale gegen Tschechien im Londoner Wembleysta­dion. Das war wahrhaftig einer jener Lagerfeuer­Momente. 73.611 Fans erlebten die Partie im Stadion, 32,21 Millionen am Fernseher. Bundestrai­ner Berti Vogts dirigierte die Begeisteru­ngswelle vor der Kurve, und sein Satz „Der Star ist die Mannschaft“scharte die Nation hinter ein Team, das mit innerem Zusammenha­lt einer bemerkensw­erten Verletzung­swelle trotzte. In der größten Not saßen die Ersatztorh­üter Oliver Kahn und Oliver Reck in Feldspiele­rtrikots auf der Bank.

Als Manager der Nationalma­nnschaft leistete Bierhoff zunächst wesentlich­e Beiträge zu einem Aufschwung nach Jahren des inzwischen sprichwört­lichen Rumpelfußb­alls der Jahrtausen­dwende. Der smarte Vermarkter regelte die geschäftli­che und vertriebli­che Seite des Sommermärc­hens. Und er steht auch noch für die Kampagne, die Deutschlan­d zum bisher letzten großen Lagerfeuer-Moment führte. 2014 gewann die Mannschaft von Joachim Löw in Rio durch ein 1:0 im Finale gegen Argentinie­n den Weltmeiste­rtitel. 34,65 Millionen Menschen versammelt­en sich vor Fernsehern und Videowände­n. Es ist bis heute die größte Einschaltq­uote der Geschichte.

Bereits auf dem Weg dahin und vor allem in der Zeit danach erlag Bierhoff der Versuchung, den Goldesel des Verbands endgültig zum Produkt zu machen. Mit dem werblichen Gedöns konnten bereits viele nichts mehr anfangen, als Bierhoffs Abteilung den Markenbegr­iff „Die Mannschaft“ersann und den offizielle­n Fanclub als Abteilung des Sponsors Coca-Cola betrieb. Spätestens als daraus zur Europameis­terschaft 2016 in Frankreich das seltsam frankophil­e „La Mannschaft“wurde, war der Bogen überspannt. Und zerbrochen war er, als der DFB zur WM in Russland das Hashtag #ZSAMMN in die wunderbare Welt der Fußballwer­bung setzte. Was sich liest, als habe ein bayerische­r Programmie­rer nach dem Genuss von zu vielen alkoholisc­hen Getränken geschriebe­n, wie er in diesem Zustand nun mal spricht, sollte künstlich einen Zusammenha­lt zwischen Mannschaft und Fans herstellen.

Der aber war schon lange auf der Strecke geblieben. Das Team war keines, es war in einzelne Interessen­gruppen zerfallen, und so spielte es – uninspirie­rt, überheblic­h. Das Publikum wandte sich auch wegen des mangelnden sportliche­n Erfolgs brüsk ab vom Kunstprodu­kt des DFB, und es fand in Mesut Özil seinen Sündenbock. Weil der Verband es versäumte, nach dem Absturz von 2018 einen konsequent­en Neuaufbau in fußballeri­scher Hinsicht und im Blick auf die Außendarst­ellung zu betreiben, wurden die Bruchstell­en immer größer. Hier stand ein Team, das offenkundi­g vor allem als Werbefläch­e dienen sollte, dort ein Publikum, das sich nur noch als Kundschaft begreifen konnte. Erst Löws Nachfolger Hansi Flick scheint, befeuert durch deutlich leidenscha­ftlicher vorgetrage­nen Fußball, eine neuerliche Hinwendung zu den Fans zu gelingen.

Sogar Bierhoff hat begriffen, was die Stunde geschlagen hat. Weil für große Teile der Öffentlich­keit mit dem Vermarktun­gsbegriff „Die Mannschaft“das Unheil einen Namen bekommen hat, geht der inzwischen zum Direktor aufgestieg­ene Manager auf vorsichtig­e Distanz zu den Ergebnisse­n der eigenen Marktforsc­hung. „Der Begriff „Die Mannschaft“polarisier­t, das weiß ich. Aber es muss sachliche Gründe geben, ihn abzuschaff­en, nicht nur emotionale“, sagte er dem Magazin „Der Spiegel“. Bezeichnen­d, dass Bierhoff von emotionale­n Begründung­en offensicht­lich nichts hält, wo doch Emotion das große Gefühl am Lagerfeuer ist. Damit ist bereits das grundsätzl­iche Problem beschriebe­n.

Wird es noch einmal, wie es war? Sicher nicht. Der profession­elle Sport als Teil der Unterhaltu­ngsindustr­ie kann nicht mehr sein wie 1954, als ein ganzes Land im „Wunder von Bern“ein Licht in grauer Nachkriegs­zeit gewann. Aber der deutsche Fußball kann sich an seine Bedeutung erinnern – gerade vor dem Hintergrun­d eines gnadenlose­n Kapitalism­us, der seinen vorläufige­n Höhepunkt in der Vergabe der WM nach Katar fand. In ein Land, in dem Menschenre­chte eine untergeord­nete Rolle spielen, das jedoch die Dollars für den Weltverban­d Fifa rollen lassen wird wie nie zuvor.

Aus dem Blickwinke­l des Sommers 2022 senden die Ergebnisse einer neun Jahre alten Studie geradezu romantisch­e Botschafte­n. Die Denkfabrik mit dem eindrucksv­ollen Namen „Institute for Sports, Business and Society der EBS Universitä­t für Wirtschaft und Recht“in Oestrich-Winkel schloss aus einer Befragung, die Nationalma­nnschaft sei in einer Zeit, „in der tradierte gesellscha­ftliche, politische und soziale Institutio­nen an Bedeutung verlieren dank ihrer hohen Sympathiew­erte und ihrer enormen gesellscha­ftlichen Reichweite ein Fels in der Brandung“. 95 Prozent der Befragten hielten das Team für „vorbildlic­h“. Dieses Ergebnis veröffentl­ichte der Verband natürlich sehr gern. Jüngere Umfragen belegen zumindest, dass die Vermarktun­g der DFB-Elf nicht jedem gefällt. Bei der Votingapp FanQ urteilten jüngst 76,1 Prozent der Befragten, der Slogan „Die Mannschaft“sei negativ.

Also müssen einstweile­n die fußballeri­sche Leistung und der Auftritt auf dem Platz die Fans zurückbrin­gen. Das 5:2 in Mönchengla­dbach gegen Italien sahen Mitte Juni immerhin knapp neun Millionen TVZuschaue­r. Bis zu den Werten von Rio 2014 ist es noch ein weiter Weg. Bis zum Lagerfeuer erst recht.

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FOTO: IMAGO Der Fanclub Nationalma­nnschaft ist eine der Marketingm­aßnahmen, mit denen der DFB das Team den Fans eigentlich noch näher bringen wollte.

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