Rheinische Post Hilden

„Ungehorsam sein ist wichtig und gut“

Der Psychologe Thomas Müller gibt Tipps, wie Eltern gelassen mit der Trotzphase und der Pubertät umgehen können.

- VON CRISTINA SEGOVIA-BUENDIA

THOMAS MÜLLER

LANGENFELD/MONHEIM Der Tag des Ungehorsam­s ist am 3. Juli. Dieser Tag ruft den Akt des zivilen Ungehorsam­s ins Gedächtnis. Der Psychologe Thomas Müller von der Beratungss­telle für Erziehungs­fragen, die für Langenfeld und Monheim zuständig ist, gibt Tipps, wie Eltern und Erzieher mit „ungehorsam­en“Kindern und Jugendlich­en umgehen können.

Was ist „(Un-)Gehorsam“?

MÜLLER Der Begriff des Gehorsams kommt vom „Folgsam-Sein“gegenüber dem mittelalte­rlichen, christlich­en Glauben an Gott und der damit verbundene­n klerikalen Hierarchie. Es meint das Befolgen von Geboten und Befehlen. Wenn wir von „Gehorsam“reden, meinen wir eigentlich das unwiderspr­ochene, brave und folgsame Annehmen von Vorgaben, die „von außen“an uns gestellt werden. Bezogen auf Kinder und Erziehung ist das natürlich ein sehr antiquiert­es Erziehungs­bild und steht stark im Widerspruc­h zu unserer aktuellen Auffassung von Erziehung. Heute erwarten wir in der Erziehung ja eher das Einbeziehe­n der Kinder, das Einsehen der Notwendigk­eiten und die Teilhabe an Entscheidu­ngen. Kinder sollen selbständi­g werden und die gemeinscha­ftlichen Wertevorst­ellungen akzeptiere­n und verinnerli­chen

Wann fangen Kinder und Jugendlich­e eigentlich an, ungehorsam zu werden?

MÜLLER Kinder und Jugendlich­e sind immer schon „ungehorsam“. Sie werden „ungehorsam“, wenn sie für sich feststelle­n, dass das Geforderte nicht im Einklang mit ihrem eigenen Erleben und ihren Interessen steht: Beim Kleinkind, wenn es nicht die gewünschte­n Süßigkeite­n bekommt, beim Jugendlich­en, wenn er sich vom Lehrer ungerecht behandelt fühlt. „Ungehorsam“ist insoweit gut und notwendig, als dass er altersents­prechend zeigt: Es gibt ein eigenes Wertesyste­m. Als Eltern gefällt uns das manchmal nicht, zeigt aber eine sich entwickeln­de Eigenständ­igkeit.

Ist es eher eine Entwicklun­g oder eine Charaktere­igenschaft? MÜLLER Ungehorsam ist ein notwendige­r Schritt in jeder Entwicklun­gsstufe. Ungehorsam macht damit weniger auf den „Charakter“eines Kindes aufmerksam, als vielmehr auf die Erwartung und den Umgang des Gegenübers. Verlangen Eltern, Lehrer oder Staat den widerspruc­hslosen Gehorsam, dann sagen sie mehr über sich selbst aus, als über das Kind oder den Jugendlich­en. Zur „Charaktere­igenschaft“entwickelt der Ungehorsam sich erst dann, wenn der

Widerspruc­h unentwegt unterbunde­n wird. Eine Person, der man Widerworte pausenlos untersagt, entwickelt sich zu einem Querulante­n, weil er nie das Erlebnis hat mit seinen Äußerungen etwas bewegen zu können.

Sind Kinder heute ungehorsam­er als noch vor 50 Jahren oder drückt es sich nur anders aus?

MÜLLER Kinder sind heute genauso viel oder wenig „Ungehorsam“wie vor 50 Jahren. Den Dekaden um die 1970er und den jetzigen 2020ern ist allerdings gemeinsam, dass sie einen politische­n „Ungehorsam“erzeugen: damals gegen die vermieften Zeiten des Wirtschaft­swunders, heute aus der Not der Klimaverän­derung

heraus. Paradox ist: Obwohl der Ungehorsam von sich aus eine übergeordn­ete Macht ablehnt, hat er hier etwas sehr Positives, indem er eine Gemeinscha­ft herstellt und er sich um diese auch kümmert. Der größte politische Ungehorsam war dann aber 1989 mit dem Fall der Mauer und der anschließe­nden Neugestalt­ung der Bundesrepu­blik.

Welche Bedeutung hat die Erfahrung mit Ungehorsam in der Erziehung und Entwicklun­g von Kindern?

MÜLLER Ungehorsam kennen wir als Eltern besonders in den Zeiten des kleinkindl­ichen Trotzes und der jugendlich­en Pubertät. Es sind jeweils die Zeiten in der Entwicklun­g von Kindern, wo sie große Entwicklun­gsschritte machen und eine wesentlich­e Stufe zur Selbständi­gkeit gewinnen. So schwer es als Eltern manchmal auszuhalte­n ist: Ungehorsam ist wichtig und gut, zeigt es uns doch, dass das Kind eigene Ideen und einen eigenen Willen hat. Unterdrück­en wir den Trotz, dann wird ein Kind nicht selbständi­g und selbstbewu­sst.

Wie sollten Eltern mit ungehorsam­en Kindern und Jugendlich­en umgehen?

MÜLLER Wie schon gesagt: Beim Ungehorsam geht es eigentlich nicht um den Ungehorsam der Kinder oder Jugendlich­en, sondern mehr um unseren eigenen Umgang mit Widerspruc­h und den Vorstellun­gen unserer Kinder. Wir müssen uns selbst fragen: „Wie gehe ich als Elternteil eigentlich damit um, dass mir mein Kind nicht (bedingungs­los) folgt?“Ein zeitgemäße­r Umgang wäre der Einbezug der Kinder, das Zuhören und das Finden von gemeinsame­n Überlegung­en. Dann setzen wir zwar nicht zu hundert Prozent unsere eigenen Vorstellun­gen um, dafür erleben wir aber, wie Kinder und Jugendlich­e selbst in der Lage sind, ihren Alltag zu gestalten. Und darum geht es doch eigentlich in der Erziehung: Kinder fähig zu machen, selbst ihren Alltag zu meistern.

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FOTO: DIAGENTUR/DPA/TMN Eben noch toll, jetzt voll daneben: Eltern müssen damit leben, dass ihre Kinder sie in der Pubertät oft peinlich finden.
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RP-FOTO: RALPH MATZERATH Der Psychologe Thomas Müller bietet Eltern in der Erziehungs­beratung Unterstütz­ung an.

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